Made in Germany, als Drohung

Es ist Frühling in Berlin, und farbenprächtig wachsen sie am Rand der Straßen, auf den Bürgersteigen und in der Mitte von Kreuzungen. Sie wuchern an Bauzäunen entlang und wickeln sich um die Terrassen aus Holz, die die Betreiber der Restaurants, Cafés und Bars der Stadt nun, da schönes Wetter wartet, auf die Straßen bauen dürfen – Rot und Weiß sind ihre Farben, sie verbreiten sich wie Pollen in der lauen Luft, die Bauzäune, Sicherheitsabsperrung, Leuchtmarkierungen, die die Hauptstadt in ein Meer von Vorläufigkeit verwandeln.

Das allein schon wäre überraschend in der Hauptstadt eines Landes, das sich selbst immer noch in dem Glauben wiegt, dass Gründlichkeit, Verlässlichkeit, vielleicht sogar Pünktlichkeit Prinzipien seien, die sich irgendwie zum Wort Deutsch addieren ließen. Das war ja der Mythos, der mit dem Siegel „made in Germany“ jahrzehntelang als weltweites Versprechen vermarktet wurde: Die schaffen das, die packen das, die machen das. Wo Deutsch draufsteht, ist Qualität drin.

Dieses Selbstverständnis, vielleicht sogar Selbstvertrauen, lebt geradezu störrisch fort. Es wird zwar oft untergraben von der Realität etwa einer Bahnfahrt, die mit drei Stunden Verspätung endet, von der Nachricht, dass in Berlin nun die Bürgerinnen und Bürger gebeten werden, die Bäume der Stadt zu gießen, weil die Behörden das nicht mehr schaffen, vom Pergamonmuseum, das nach Renovierung schon 2037 wieder eröffnet werden soll. Zu lange wurde zu wenig investiert in die öffentliche Infrastruktur. „Made in Germany“ klingt deshalb oft eher wie eine Drohung als ein Versprechen.

Rot-Weiße Zaunskulpturen

Berlin wiederum lebte eine ganze Weile von diesem Mythos des Unfertigen, des Werdens. Die Möglichkeiten waren wichtiger als die Realitäten, die Offenheit war die Anziehungskraft für Welle nach Welle nach Welle von vor allem jungen Menschen aus Sevilla und Stuttgart, aus Tel Aviv und Tirana, die hierherkamen, weil sie diese Offenheit zum Gestalten brauchten. Aber die Stadt hat längst die meisten dieser Freiflächen oder Freiheitsflächen verloren; geblieben ist die Erinnerung an die Möglichkeiten.

Und nun? Sogar die Politik hat es endlich erkannt, so scheint es, dieses fatale Phlegma, das sich auszubreiten droht. Jetzt soll wieder angepackt werden, es soll wieder repariert, renoviert, gebaut werden. Infrastruktur ist Grundversorgung und Innovation, so heißt es. Dafür ist auch das Sondervermögen der Regierung Merz da. Aber kriegen wir das hin? Können wir noch bauen?

Ein Spaziergang durch die Mitte von Berlin weckt da erhebliche Zweifel und offenbart erst einmal Momente von surrealer Schönheit – etwa dieses hellblaue Dixi-Klo, eingebettet in einen Haufen Holzpaletten, sorgsam umfriedet von einem Geviert rot-weißer Plastikzäune, wobei unklar ist, wer vor wem geschützt werden soll. Oder ein Schlagloch, das ärgerlich wäre, aber nicht so ärgerlich wie die rot-weiße Zaunskulptur, mit der das Schlagloch umrahmt und überwölbt ist und das Radfahrer und Autofahrer zu abenteuerlichen Ausweichmanövern zwingt.

Dämmernde Dauerbaustellen

Die Frage, die sich an diesem Beispiel stellt, ist eine des Prozesses: Wenn bekannt ist, dass hier ein Schlagloch ist – warum wird es dann nicht gleich repariert? Wenn jemand die Zeit hat, hier Bauzäune wachsen zu lassen, warum hat diese Person nicht Zeit, sich gleich darum zu kümmern, dass das Schlagloch ausgebessert wird? Unklar bleibt bei dem ganzen öffentlichen Schauspiel, ob hier Unfähigkeit als Tatkraft verkauft werden soll oder durch Aktionismus von der mangelnden Umsetzungskraft oder -kompetenz abgelenkt werden soll.

Was sich also zeigt in all diesen überraschenden Straßensperrungen, all den angefangenen und langsam vor sich hin dämmernden Dauerbaustellen, all den mit Sicherheitswarnreflektorschildern bewachten Schächten und Schienen und sonstigen Aushebe- und Ausbesserungs- und Umbauarbeiten: Sie sind ein Sinnbild der Probleme und Pathologien gegenwärtiger Politik. Wir wissen, dass wir etwas tun müssen – aber wir wissen nicht mehr, wie es geht.

Es ist ein wenig wie die Ursprungsgeschichte der Schildbürger, dieses Narrenspiel, diese deutsche Charakterstudie aus dem späten 16. Jahrhundert. So tief reicht das vielleicht, was in Berlin als Phänomenologie der Vergeblichkeit zutage tritt und einen zurücklässt mit der Melancholie ungenutzter Möglichkeiten.

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