Neulich habe ich um 200 Euro gewettet, dass Deutschland nach der Bundestagswahl eine schwarz-blaue Regierung bekommt. 200 Euro sitzen bei mir weder locker noch wünsche oder glaube ich, dass die CDU mit der AfD koalieren wird. Doch die Wette tut mir gut, ich habe endlich wieder .
Mein Einsatz ist meine Risikobeteiligung. Eigentlich sollte ich also wollen, dass die AfD mitregiert, es geht ja nun für mich um viel Geld. Nur hat die Wette einen anderen Zweck: Ich setze auf das Schlimmste, um mir selbst die Angst davor zu nehmen. Ich blicke der Wahrscheinlichkeit, dass es kommt, wie ich nicht will, so sehr ins Auge, dass die Zukunft ihre Fürchterlichkeit verliert. Ich kann sie jetzt ja kontrollieren, irgendwie, weil ich zumindest Geld drauf gesetzt habe.
Es ist ein Psychospiel, natürlich, eine Steigerung der Angewohnheit besonders ängstlicher Menschen, zu denen ich selbstverständlich nicht zähle, sich den größten anzunehmenden Unfall so lange auszumalen, dass man den GAU, wenn er denn eintritt, schon sehr gut kennt. Das kann man komisch finden, aber dann sollte man zumindest wissen, dass inzwischen viele Menschen so ihr Geld verschleudern.
Bei Polymarket, einem in den USA verbotenen und doch bestens funktionierenden Vorhersagemarkt im Internet, kann man suchen, was einem persönlich am wenigsten zupass käme, und Geld darauf setzen. Natürlich auch auf das, was man sich wünscht.
Mindestwetteinsatz: 92 US-Cent Einsatz für Ja, 82 US-Cent für Nein. Wettvolumen: 224.650 US-Dollar. Schön zu sehen: Nur 19 Prozent der Wetteinsätze gehen davon aus, dass es so kommt.
Mindestwetteinsatz: 2,8 US-Cent für Ja, 97.3 US-Cent für Nein: Wettvolumen: 3.922.422 US-Dollar. Die meisten Menschen gehen dann doch von Merz aus.
Polymarket ist in den USA verboten, weil die Plattform illegales Glücksspiel anbietet, völlig unreguliert. Deshalb funktioniert sie so gut. Es gibt keine Einschränkungen, jede Wette scheint möglich, wenn man ein bisschen Kryptogeld hat.
Und alle, die mitwetten wollen, verlassen sich bei ihrem Einsatz auf eine Mischung aus Bauchgefühl, Wissensstand oder, wie ich, Angst. Auf das, was jeder Einzelne für denkbar hält – nicht für erwünscht, konform, oder sicher. Wird Kanye West sich bis April von seiner Frau Bianca Censori scheiden lassen? Die Chancen stehen bei 30 Prozent.
In einer Situation, in der die letzte Gewissheit, dass die Dinge schon irgendwie so funktionieren werden, wie sie immer funktioniert haben, für viele Menschen mit dem Amtsantritt von Trump zerstört wurden, bietet Polymarket die unseriös-herrliche Möglichkeit, die Absurditäten der Gegenwart zu überblicken. Denn worüber gewettet wird, das tritt auch in den Möglichkeitsraum. Und mehr noch: Polymarket ermöglicht ebenso, herauszufinden, was Menschen darüber denken – ohne etwas sagen zu müssen.
Während die Durchführungswahrscheinlichkeit politischer Obszönitäten in den Medien wie am Abendbrottisch noch vorsichtig angedacht werden, gibt es bei Polymarket schon eine Wette. Wird Trump sich wirklich Grönland holen? Es ist die Gamification des Weltgeschehens.
Polymarket und ähnliche Plattformen, eine andere große heißt Kalshi, sind auch ein kommodes Alltagswerkzeug in dieser Flooding-the-Zone-With-Shit-Phase der Weltgeschichte: Alle akuten Probleme und Vorgänge passen auf einen Laptopscreen, wo sie nicht journalistisch kuratiert oder nach einem TikTok-Algorithmus sortiert werden, sondern nach dem, worauf die Leute eben wetten, weil es sie genau jetzt gerade interessiert. Wie ein Modeshop ein Banner für „Winterjacken SALE“ hat, so hat Polymarket gerade einen für „Global Trade Wars“.
Werden dieses Jahr noch EU-Truppen in der Ukraine kämpfen? Das ist wenig plausibel, vor allem das Kämpfen nicht, aber genau darum geht es ja. Die eigene Beschäftigung mit jedem Szenario.
Natürlich ist es nicht ganz so einfach und auch nicht ganz so sinnvoll. Auf Polymarket gibt es keinerlei Schranken vor Insiderhandel (Wissen Sie jetzt vielleicht schon, ob Kanye West sich scheiden lassen wird? Sie sollten wetten!) oder vor anderen Manipulationen. Bei den US-Wahlen hat ein Franzose namens Théo aus dem Bankwesen um die 28 Millionen US-Dollar auf den Wahlsieg von Trump gesetzt und davor sogar eigene Marktforschung bezahlt, um seinen Einsatz abzusichern. Er soll um die 82 Millionen US-Dollar daran verdient haben.
Interessant ist: Vor der US-Wahl gestanden die Nutzer auf Polymarket Donald Trump noch mehr Vorsprung zu als die Umfragen. Polymarket lag, grob gesagt, also richtiger. Trotzdem ist da ein Unterschied. Beim Wetten geht es um Wahrscheinlichkeiten oder Gefühle, bei Wahlumfragen um das, was Wähler vorhaben.
Auch wenn die Plattform bei so einer großen Wahl selbst nach diesem Vorgang nicht von einer Marktmanipulation spricht, ist davon auszugehen, dass sie bei kleineren Wetten ständig vorkommen kann. Oder dass die Wetteinsätze tatsächlich eine sind, weil Wahrscheinlichkeiten Menschen schon immer angestachelt haben, die Dinge auch wahrzumachen, sie in die Realität zu bringen. Das wäre bei vielen Wetten auf Polymarket offensichtlich dringend zu vermeiden.
Ich habe übrigens nicht im Internet um schwarz-blau gewettet, sondern per Handschlag in einem Restaurant, vielleicht nach dem zweiten Weißweinglas. Egal, wie es kommt, die 200 Euro werden in gutes Essen mit Kollegen fließen. Falls Deutschland sich nicht abschafft, soll ich Champagner kaufen.