Länger arbeiten? Ein notwendiger Tabubruch

Es ist selten geworden, dass Politiker unbequeme Wahrheiten aussprechen. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche hat es dennoch gewagt. Die Deutschen müssen länger arbeiten, fordert sie. Es könne nicht sein, dass wir ein Drittel unseres Lebens im Ruhestand verbringen. Und sie hat recht.

Die Lebenserwartung in Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen: seit Einführung des umlagefinanzierten Rentensystems 1957 um zwölf Lebensjahre. Und kamen damals auf einen Rentner noch sechs Einzahler, sind es heute noch zwei, bald werden es noch weniger sein.

Bereits jetzt und in den kommenden Jahren gehen die geburtenstarken Jahrgänge, die Babyboomer, in Rente. Das System ächzt unter der Last. Mehr als 100 Milliarden Euro pro Jahr fließen aus dem Bundeshaushalt in die Rentenkassen.

Diese Zahlen sind alle bekannt, die Warnzeichen sind unübersehbar. Und doch wird die notwendige Debatte immer wieder vertagt. Dabei lähmt das Festhalten am Status quo die Zukunftsfähigkeit des Landes. Ökonomen weisen seit Jahren darauf hin, dass wir angesichts der demografischen Entwicklung länger arbeiten müssen. Reiches Vorstoß ist also ein längst notwendiger Tabubruch.

Altersversorgung: Die Realitätsferne von Teilen der Politik

Erwartbarer Widerspruch kam von Sozialverbänden und dem Arbeitnehmerflügel der CDU: Man dürfe das Rentenalter nicht durch die Hintertür anheben, Reiches Forderungen hätten keine Grundlage im Koalitionsvertrag. Doch genau darin liegt das eigentliche Problem. Dass die zentrale sozialpolitische Herausforderung unserer Zeit im Koalitionsvertrag nicht wirklich und grundlegend angegangen wird, zeigt, wie realitätsfern Teile der Politik agieren.

Bestes Beispiel ist die sogenannte Rente mit 63. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem vergangenen Jahr zeigt: Von der Frühverrentung profitieren nicht etwa Krankenschwestern oder Bauarbeiter. Sondern vor allem Bankangestellte und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst. Das Bild der Schwerarbeiter, der Dachdecker, der Stahlwerker, dessen sich Politiker gern bedienen, trägt nur bedingt.

Katherina Reiches Realismus ist richtig. Die Rentenfrage duldet keinen Aufschub mehr. Denn die Wahrheit lautet: Die Rente ist längst nicht mehr sicher.