Um kurz nach halb sieben abends liegt eine meteorologische
Unsicherheit über der Stadt Berlin. Gerade ist, wie schon mehrmals an dem Tag,
ein Regen niedergegangen, als gelte es, alle Sünden der Welt wegzuwaschen. Nun
stehen am Gendarmenmarkt vor einem der drei Eingänge zum Open-Air-Konzert von
Anna Netrebko, das am Abend zuvor wegen sündenwegwaschenden Regens verschoben
werden musste, vielleicht 50 Protestierende und rufen: „Keine Bühne für
Putins Unterstützerin.“
Der Ukraine-Solidaritätsverein Vitsche hat zu dem Protest
aufgerufen, an allen drei Zugängen zu dem Konzert sollen sich Demonstrierende
vor den Absperrungen versammeln. Die russisch-österreichische Sopranistin
Netrebko tritt an diesem Abend gemeinsam mit dem aserbaidschanischen Tenor
Yusif Eyvazov auf, die beiden waren privat mal ein Paar und sind es nicht mehr,
nur noch künstlerisch Partner. Gegen Eyvazov gibt es keine Sprechchöre.
Es geht gegen Anna Netrebko, es geht gegen die Veranstalter
und letztlich auch und vor allem gegen die Besucher des Abschlusskonzerts der
Reihe „Classic Open Air“ auf dem Gendarmenmarkt. Was soll Kunst in diesen
Zeiten, da Krieg herrscht anderswo, das ist ja eine Frage, die immer wieder
diskutiert wird. Soll man, kann man als Kulturmensch die Widersprüche
weglächeln und reine Musik konsumieren?
„“rufen die Leute vorm Konzerteingang nun,
während ein Kind mit blauen Gummistiefeln in den Pfützen planscht. Anna
Netrebko, ruft eine Frau sehr heiser in ein Mikrofon, habe sich nie gegen den
Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgesprochen, sie habe sogar einmal ihren
Geburtstag mit Putin gefeiert. Sie habe gezeigt, auf wessen Seite sie stehe.
Eine Besucherin filmt das kurz mit dem Handy und geht dann zum Einlass, um ihre
Tasche kontrollieren zu lassen.
Es sind vor allem ältere Leute, die sich auf den
Gendarmenmarkt schieben. Sie sind halbwegs wetterfest angezogen, manche
versuchen noch, etwas Eleganz zu bewahren. Freiluftkonzerte werden im Zeitalter
der Klimakrise auch eine Art Outdoorsport mit Survivalcharakter, vielleicht
ist dieses Risiko auch Teil des Kulturkitzels. Die Wolken türmen sich dunkel
über dem hellen Steinbau des Konzerthauses auf. Wird das Wetter halten?
Mehr als 1.200 Tage und Nächte sind vergangen, seit Russland
die Ukraine im Jahr 2022 angegriffen hat, der eigentliche Krieg selbst dauert
seit 2014 und wurde hingenommen, von der damaligen Regierung Merkel wie von der
Welt. Die Regierung Scholz scholzte sich dann um einen klaren Kurs herum.
Friedrich Merz organisiert heute Waffen aus den USA und seine Rolle im
geopolitischen Kartenhaus. Wem nutzt also dieser Protest vor einem
Open-Air-Konzert?
Ein Mann in einem schwarzen Allzweckanorak, er trägt drei
Rosen in der Hand, stellt sich direkt vor die Protestierenden und schüttelt den
Kopf. Ein anderer Mann macht eine wegwerfende Geste, während die kleine Menge
ruft: „Russland ist ein Terrorstaat.“ Ein weiterer Mann, Typ gut gebräunter
Oberstudienrat in Rente, ruft etwas in die Richtung der blau-gelben Fahnen, das
schwer zu verstehen, aber sicher nicht nett ist. Welche gesellschaftlichen
Fragen also werden hier verhandelt?
Natürlich wird es auch und vielleicht vor allem unter
Netrebko-Fans Russlandfreunde und AfD-Wähler geben, statistisch müsste es ja
mehr oder weniger jeder vierte sein, hier wohl eher mehr. Es hat also einen
Sinn, wenn sich die Wut der Protestierenden, die sehr ordentlich Abstand
halten, gegen diese Menschen richtet, die sich nicht schämen, sondern im
Gegenteil fundamental ungestört sein wollen, ganz sicher bei ihrem Musikgenuss,
womöglich auch in ihrer Weltsicht.
Im Wirtshaus an der Ecke, „Erdinger am Gendarmenmarkt“ heißt
es, hat sich zum Beispiel eine Frau mit elegantem roten Hut und tiefer Bräune
platziert und hält lächelnd ein Schild in die Höhe, auf dem steht: „Danke für
Russlands Kultur!“ Sie ist mit ein paar Freundinnen da, alle fortgeschrittenes
Alter, eine hat eine Stofftasche dabei: „“.