Kindergärten, Kraftwerke, Häuser: So zerstört ist die Ukraine

Obwohl Russland behauptet, an einem dauerhaften Frieden interessiert zu sein, führt sein Präsident Wladimir Putin den Krieg mit unverminderter Härte weiter. In den vergangenen Wochen hat die russische Armee Drohnenangriffe und den Beschuss durch Raketen sogar intensiviert. In der Nacht auf Sonntag stürzten drei russische Drohnen auf ein Wohngebiet in der Stadt Isjum im Osten des Landes. Nach ukrainischen Angaben starb ein Mann, mehrere Häuser brannten aus. Wenige Tage zuvor trafen russische Raketen ein Hotel in Krywyj Rih und ein Getreideschiff im Hafen von Odessa, vier Besatzungsmitglieder starben. Vergangenen Freitag verursachte ein russischer Drohnenangriff einen Großbrand in einem Krankenhaus in der Stadt Solotschiw, bei Charkiw.

Seit Beginn der russischen Vollinvasion hat ein Team der Kyiv School of Economics (KSE) zerstörte Schulen, Fabriken, Wohnhäuser und Kraftwerke dokumentiert, um das Ausmaß der Zerstörung im zivilen Bereich aufzuzeigen. Und auch um eine Vorstellung davon zu geben, welche Summen für den Wiederaufbau des Landes nötig werden. Vor Kurzem veröffentlichte die KSE dazu eine aktuelle Studie (PDF), die ZEIT ONLINE ausgewertet hat. Das Dokument erfasst Zerstörungen seit dem Invasionsbeginn im Februar 2022 bis Ende 2024. 

Um die Schäden möglichst exakt einzuschätzen, nutzte das Team der KSE Schadensanalysen des Ministeriums für Wirtschaft, des Energieministeriums und des Ministeriums für regionale Entwicklung, Bau- und kommunale Wirtschaft. Darüber hinaus führte das Team eigene Inspektionen vor Ort durch, zum Beispiel bei beschädigten Großobjekten wie Kraftwerken. Um die Schäden finanziell zu beziffern, haben die KSE-Experten die Kosten der Instandsetzung oder des Neubaus, ausgehend vom Ausmaß der Zerstörung, geschätzt.

Insgesamt geht die KSE in ihrer aktuellen Analyse für die gesamte Ukraine im zivilen Bereich von einer Schadenssumme von etwa 170 Milliarden US-Dollar, umgerechnet gut 156 Milliarden Euro, aus. Ein Großteil dieser Zerstörung ist bereits im ersten Kriegsjahr angerichtet worden. Dazu zählen auch besetzte und beinahe vollständig vernichtete Städte wie Bachmut oder Wuhledar. Auf zerstörte Wohnhäuser entfällt gut ein Drittel der gesamten Summe, gefolgt von Infrastruktur wie Straßen oder Wasserleitungen und schließlich der Energieinfrastruktur. 

Im vergangenen Jahr hat Russland seine Angriffe auf Anlagen im Energiebereich konzentriert. So ist die Summe der Schäden an Kraftwerken und Stromnetzen 2024 um 46 Prozent auf 14,4 Milliarden gestiegen. Zahlreiche neue Schäden hat Russland 2024 auch im Gesundheitsbereich angerichtet. Im Sommer traf eine russische Rakete etwa das moderne Kinderkrankenhaus Ochmatdit in der Hauptstadt Kyjiw. Bei diesem Angriff tötete die russische Armee zwei Erwachsene, acht Kinder wurden teils schwer verletzt. Die Kosten der Instandsetzung des Krankenhauses werden auf etwa 100 Millionen Euro geschätzt. 

Während Russlands Präsident vergangene Woche in Moskau neue Bedingungen für einen Waffenstillstand aufstellte, sind in der ukrainischen Stadt Dnipro mehrere Schahed-Drohnen eingeschlagen. Die regionale Verwaltung sprach von Schäden an einem „Infrastrukturobjekt“. Getroffen worden seien jedoch auch mehrere private Wohnhäuser. Abseits der unmittelbaren Frontlinie, wo Wohnungen vor allem durch Gleitbomben und Artilleriebeschuss zerstört werden, geht im ukrainischen Hinterland die größte Gefahr für Wohnungen von fehlgeleiteten und abgeschossenen Drohnen aus. Regelmäßig treffen Trümmer auch größere Wohnblocks. Immer wieder schlagen Raketen aber auch gezielt in Wohnhäuser ein. Am 2. Februar etwa zerstörte eine russische Kh-22 einen fünfstöckigen Wohnblock in der Stadt Poltawa, 14 Menschen sind dabei gestorben.  

Insgesamt sind laut Zählung der KSE-Experten im gesamten Krieg bisher rund 7.000 Wohnblöcke zerstört worden. Knapp 20.000 wurden teils schwerbeschädigt. Das entspricht etwa 15 Prozent des gesamten Bestands an Mehrfamilienhäusern in der Ukraine. Die meisten dieser zerstörten Häuser befinden sich heute auf besetztem Gebiet, etwa in den Städten Mariupol, Bachmut und der umkämpften Stadt Torezk. Aber auch der Norden der Millionenstadt Charkiw, die nicht von der russischen Armee besetzt werden konnte, ist durch Artillerie- und Raketenbeschuss schwerbeschädigt worden. Die für den Wiederaufbau der Wohnhäuser im gesamten Land benötigte Summe schätzen KSE-Experten mit Stand November 2024 auf rund 50 Milliarden US-Dollar.

Besonders perfide sind die russischen Angriffe auf Schulen und Kindergärten. Das russische Militär behauptet zwar immer wieder, die ukrainische Armee würde die teils leer stehenden Einrichtungen als Unterkunft nutzen. Die KSE-Daten belegen allerdings, dass auch Schulen abseits der unmittelbaren Kampfzone angegriffen werden. Seit Beginn der russischen Invasion wurde in mindestens elf ukrainischen Regionen gekämpft. Gleichwohl wurden Schulgebäude in mindestens 22 Regionen durch russischen Beschuss entweder schwerbeschädigt oder komplett zerstört. Nur in drei ukrainischen Regionen im Westen des Landes wurden bislang keine Angriffe registriert. 

Insgesamt wurden in der Ukraine seit Kriegsbeginn etwa 2.000 Schulen beschädigt oder zerstört. Damit ist seit Kriegsbeginn etwa jede zwölfte Schule in der Ukraine zum Ziel russischer Angriffe geworden. Einer der jüngsten Angriffe liegt weniger als zwei Wochen zurück. In dem Ort Ochtyrka in der Region Sumy trafen zwei russische Drohnen eine Schule. Dabei wurden das Gebäude selbst, ein angrenzendes Schwimmbad und der Schulbus beschädigt. 

Als besonders kritisch für die Ukraine waren die russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur. Zwar haben sich die alarmierenden Prognosen von Experten im vergangenen Winter nicht bewahrheitet, ein flächendeckender Blackout ist ausgeblieben. Geholfen haben dabei der milde Winter, Stromimporte aus der EU und der nach deutlichen Preissteigerungen gesunkene Verbrauch durch Unternehmen und Haushalte. Der wichtigste Aspekt war allerdings, dass Russland die Arbeit der Atomkraftwerke und der mit ihnen verbundenen Umspannwerke nicht zerstören konnte oder wollte. In Städten wie Charkiw wurden auch zahlreiche, gasbetriebene Minikraftwerke eingesetzt, um etwa Krankenhäuser und andere wichtige Objekte zu versorgen. 

Laut KSE-Recherchen wurde im bisherigen Kriegsverlauf jedes Kohle- und Wasserkraftwerk des Landes zumindest beschädigt oder vollständig außer Betrieb gesetzt. Allein den Schaden nach der Zerstörung des Wasserkraftwerks am Kachowka-Staudamm im Jahr 2023 schätzen die KSE-Experten auf gut eine halbe Milliarde Dollar. Insgesamt wurden Anlagen und Kraftwerke in einem Wert von 12 Milliarden US-Dollar zerstört.

Nicht berücksichtigt wurden in der KSE-Aufzählung die Schäden an der Gasinfrastruktur seit Beginn des Jahres 2025, da sie erst nach Abschluss der Studie entstanden sind. Die ukrainische Regierung hat den Transitvertrag mit dem russischen Monopolisten Gazprom Ende 2024 auslaufen lassen. Seitdem hat Russland mehrfach Pipelines und ukrainische Förderanlagen angegriffen. Die Ukraine muss deswegen vermehrt Erdgas aus Europa importieren.

Eine der schwerwiegendsten Kriegsfolgen für die Ukraine lässt sich finanziell nicht erfassen: Der russische Angriffskrieg, die Zerstörung von Häusern und Infrastruktur haben auch Folgen für die demografische Lage in der Ukraine. Nach Schätzungen des in Kyjiw ansässigen Instituts für Demografie und soziale Studien leben derzeit in den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten des Landes 31,5 Millionen Menschen. Das sind etwa 10 Millionen weniger als noch vor der russischen Invasion im Februar 2022. 

Ungefähr 6,4 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind wegen des Krieges in Länder der EU, etwa nach Polen, Deutschland oder Tschechien, geflohen. Zwar hat sich die Einwohnerflucht im Vergleich zum ersten Kriegsjahr deutlich verlangsamt. In der zweiten Jahreshälfte 2024 sind aber wieder mehr Menschen dauerhaft ausgereist. Insgesamt hat das Land im vergangenen Jahr durch Abwanderung 0,5 Millionen Einwohner verloren.

Negativ ist der Trend auch bei der Anzahl der Geburten. So sind im vergangenen Jahr nach Angaben der ukrainischen Regierung nur 176.000 Kinder auf die Welt gekommen, rund 100.000 weniger als im letzten Friedensjahr 2021. Die Gründe dafür sind vielfältig. Wegen des Krieges befinden sich Hunderttausende Männer an der Front, während viele Ukrainerinnen das Land verlassen haben. Auch die wirtschaftliche Situation hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verschlechtert. Ende 2024 lag die Wirtschaftsleistung um rund 20 Prozent niedriger als 2021. Ein bislang hypothetisches Ende der Kampfhandlungen dürfte den negativen demografischen Trend nicht umkehren, aber es könnte zumindest den Absturz stoppen.

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