Volkswagen steckt in einer Mega-Krise, Mercedes, BMW & Co. haben massive Probleme in China und Übersee. In Deutschland stehen Hunderttausende Arbeitsplätze und der Wohlstand einer Nation auf dem Spiel: 190.000 Arbeitsplätze könnten verloren gehen, warnt Hildegard Müller (57), Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie.

BILD traf sie zum Krisen-Gespräch.

BILD: Frau Müller, die Welt will unsere Autos nicht mehr so wie früher. Ist das deutsche Automärchen Geschichte?

Hildegard Müller: „Dieser Blick ist mir zu pessimistisch. Wir sind nach wie vor führend. Wir verkaufen in China hundertmal mehr Autos als umgekehrt. Weltweit sind unsere Marken gefragt, aber es entstehen neue Wettbewerber. […] Die Produkte sind wettbewerbsfähig, aber der Standort leider nicht.“

„Produkte sind wettbewerbsfähig, der Standort leider nicht“

Der VW-Konzern ist in der tiefsten Krise der Unternehmensgeschichte. Was ist schiefgelaufen?

„Also ich äußere mich natürlich nicht zu einzelnen Unternehmen, da bitte ich schon um Verständnis …“

Aber die Krise haben ja auch andere Hersteller …

„Ich bin ein bisschen überrascht, dass alle jetzt auf einmal so überrascht über eine Krise sprechen: Wir weisen seit längerer Zeit darauf hin, dass der Standort international nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Wir sind zu teuer. Wir sind in den Energiepreisen hoch. Wir sind in den Steuern und Abgaben hoch. Die Bürokratie-Lasten erdrücken.

[…] Und dann haben wir natürlich noch eine Transformation vom Verbrennungsmotor zur Elektromobilität. Die Politik sollte sich jetzt keinen schlanken Fuß machen und von Managementversagen oder anderem sprechen, sondern wir müssen die Herausforderung bewältigen und jeder an seiner Stelle: Wir investieren deshalb sehr, sehr viel Geld in den nächsten Jahren, um vorn dabei zu sein, weiterhin die besten Produkte zu haben.“

„Wir kämpfen um den Standort“

830.000 Menschen arbeiten in Deutschland entweder direkt in der Automobilindustrie oder bei den Automobilzulieferern. Was wird in zehn Jahren davon übrig sein?

„Es hängt entscheidend davon ab, ob wir dann wieder politisch gut regieren und ob wir natürlich gute Autos bauen. Das ist klar. Deshalb: Wir investieren in den nächsten vier Jahren rund 280 Milliarden Euro allein in Forschung und Entwicklung, neue Antriebe, Digitalisierung und 130 Milliarden in den Werksumbau. Das ist ein klares Versprechen für die Zukunft, an die Zukunft. Nur, wir sagen der Politik schon länger: Wo die Investitionen stattfinden, hängt von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Standortes ab. Wir sind eine Branche, in der zurzeit 70 Prozent der Arbeitsplätze am Export hängen. Dreiviertel der Autos, exportieren wir. […] Wir sind hier verwurzelt, wir wollen hierbleiben. Wir kämpfen um den Standort.“

Energie bis zu fünfmal teurer als anderswo

Um wie viel müssen denn die Löhne oder die Kosten sinken, damit bezahlbare E-Autos aus Deutschland kommen?

„Also erstens hat Volkswagen ja ein entsprechendes Auto angekündigt jetzt, was auch zeitnah kommen soll. Ich kann da nichts zur Produktpalette sagen. […] Wir brauchen ein Bewusstsein, dass wir hier nicht mit allem am teuersten sein können. Wenn die Energiepreise drei- bis fünfmal so hoch sind wie bei relevanten Wettbewerbern, ist das ein Faktor, der lange bekannt ist, der nicht nur die Autoindustrie trifft. Der trifft die gesamte Industrie. Deshalb gibt es auch keine Batterien hier, die in der Gegend produziert werden. Das trifft den Mittelstand, das trifft den Bäcker, den Handwerker alles genauso. Diese Themen sind seit dem Ausstieg aus der Kernenergie bekannt. Es gibt bis heute keine richtige politische Reaktion darauf.“

Muss der Verbrenner gerettet werden?

„In Zeiten von großen Transformationen sollte die Politik die Technik nicht einseitig beschränken. Kein Zweifel: Der Hochlauf hier in Deutschland wird elektrisch sein. Aber eben nicht 100 Prozent. […] Wir haben schon an der Wärmepumpen-Diskussion gesehen, wie Verbote wirken und deshalb hätte ich mich gefreut, wenn wir eine positive Diskussion führen, wenn wir klare Ziele geben. Das Ziel ist CO₂-Neutralität. Die Autoindustrie verpflichtet sich, wir wollen die Pariser Klimaschutz-Ziele einhalten. Aber ich glaube, über Verbote kommen wir in solchen Diskussionen nicht weiter.“

„Wenn die Regierung bleiben will, muss sie regieren“

Mitte in der Wirtschaftskrise haben wir einen Kanzler und einen Finanzminister, die zu gesonderten Gipfeln aufrufen. Haben Sie so ein politisches Verhalten schon einmal erlebt?

„So etwas, wie wir es aktuell geboten bekommen, habe ich noch nicht erlebt. Und vor allem auch nicht vor dem Hintergrund der Krisen, die wir haben. Die Regierung hat eigentlich bewiesen, dass sie in Krisen auch handeln kann. Als die Ukraine-Krise war, die Gas-Krise oder anderes mehr […], da hat man sich gemeinschaftlich hingestellt und überlegt: Was ist jetzt wichtig für die Menschen in diesem Land, für den Standort, für die Arbeitsplätze? Dass das nun gerade gar nicht mehr gelingt, das ist nicht nur bedauerlich, das ist angesichts der Veränderungen in der Welt die wirklich schlechte Nachricht für alle Beteiligten, insbesondere für die Arbeitsplätze und für den Standort. Und die Politik kann hier die Verantwortung auch nicht von sich wegschieben. Sie ist gewählt, sie ist im Amt. Wenn sie das bleiben möchte, dann muss sie regieren. Wir brauchen jetzt die Handlung, denn es gibt kein Erkenntnisdefizit, das möchte ich noch einmal sagen.“

Können Sie das Wort Gipfel noch hören?

„Mal sind es Gipfel, mal sind es Beratungsgespräche … generell ist ein Austausch gut, nur es ist wirklich alles vorgetragen. Es liegen tausende von Seiten an Erkenntnissen vor. Nicht nur von uns, auch von Wirtschaftsforschungsinstituten, wir haben die internationalen Rankings, wir sehen die Kostenkurven und vieles andere mehr. Insofern ist jetzt nötig erstens, dass man sich eint und zweitens, dass man dringend handelt. Und die Welt wartet nicht auf uns. Das ist mir so wichtig: Die Welt sieht diese Schwäche, sie nutzt sie schon […] oftmals gegen uns.“

Nur noch 1 % der Unternehmer wollen Investitionen in Deutschland erhöhen

Bringt die Regierung den Standort in Gefahr?

„Wenn das so weitergeht, ist die Gefahr groß, dass die Probleme, die bekannt sind, nicht behoben werden. Wir müssen jetzt Investitionsentscheidungen treffen und vor diesem Hintergrund mahnen wir dringend: Gebt uns positive Signale! Wir wollen hierbleiben! Wir wollen hier produzieren! Wir wollen die Arbeitsplätze haben! […] Gerade auch die Gewerkschaften sollten sich als Teil der Veränderung sehen und überlegen, was ihr Beitrag an dieser Stelle ist. […] Wir fragen unsere Unternehmen regelmäßig – mittlerweile sagen nur noch ein Prozent, dass sie ihre Investitionen in Deutschland erhöhen möchten. […] Das zeigt, dass die Unternehmen entweder warten und gehen oder verlagern. Und das ist keine gute Nachricht in einer Zeit, in der man investieren muss, um vorn mit dabei zu sein.“

Droht eine Deindustrialisierung?

„Letztendlich ja. Der Bundesverband der Industrie hat das jetzt mal sehr umfassend auch untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass fast 20 % der Industrieproduktion in Deutschland gefährdet ist, dadurch, dass wir diesen Stillstand haben. […] Es wird nicht bei der Industrie stehen bleiben: Das trifft den Bäcker, das trifft die Reinigung, das trifft den Handwerker vor Ort. Wenn wir in Regionen nicht mehr stabil sind, weil Werke in Rede stehen, dann ist das ganze System gefährdet.“

„Herr Bundeskanzler, alles ist vorgetragen“

Frau Müller, der Bundeskanzler kommt zur Tür herein, Sie haben zwei Minuten – was sagen Sie ihm?

„Herr Bundeskanzler, bei allem Respekt, alles ist vorgetragen. Es gibt kein Erkenntnisproblem mehr. Wir haben ein Handlungsthema und die Erwartung von mir persönlich, von meiner Industrie, aber ich glaube, von all uns Deutschen ist, zu sagen: Kommen wir ins Handeln!“