In welcher Welt würde ich Milch trinken?

Auf
einer Fahrradtour habe ich neulich in einer Pension übernachtet. Beim Frühstück
sagte ich der Frau, die das Geschirr auf den Tisch stellte, dass ich Veganerin
sei. Oh, erwiderte sie, da müsse sie mal den Chef fragen, was die Pension da habe. Kurze
Zeit später stand dieser Chef dann auch am Tisch, mit einem Paprika-Aufstrich in der
Hand und einem kleinen Vortrag. Werde er darüber nicht vorab informiert, müsste er Lebensmittel wegschmeißen. Und das sei nun wirklich eine
Schande. Ich entschuldigte mich sofort. Lebensmittel wegwerfen, das möchte ich
natürlich auch nicht. Aber eine Wahl treffen möchte ich schon. Nämlich die,
keine tierischen Produkte mehr zu essen. Das hat nichts mit einer
Unverträglichkeit oder einer Krankheit zu tun. Zunächst zumindest.

Ich
ernähre mich schon seit Jahren vegetarisch, weil ich nicht möchte, dass Tiere
getötet werden. Auch nicht Tiere, die ein Leben auf einer Weide oder im Wald hatten.
Bei Milch, Joghurt und Käse achtete ich stets auf Bio-Produkte. Denn mir tun auch die
Tiere leid, die in einer Massentierhaltung stecken. Im wahrsten Sinne des
Wortes. Eine Milchkuh hat mittlerweile ein so überzüchtetes Euter, dass sie gar
nicht mehr auf eine Weide laufen oder dort auch nur stehen könnte. Das
Bild, das uns die Werbung
vermittelt, wenn wir an eine Kuh denken, stimmt also gar nicht mehr. Die Wahrheit ist: Industriell gehaltene Kühe sind auf eine derart hohe Milchleistung getrimmt, dass sie unter vielen zuchtbedingten
Krankheiten leiden und früh ausgezehrt sind. Fast die Hälfte von ihnen wird
deswegen schon mit vier bis fünf Jahren geschlachtet, obwohl sie 20 Jahre und
älter werden könnten
.

Bei
einem Spaziergang mit meiner Freundin Christina Ledermann vom Verein Menschen
für Tierrechte
bekomme ich Zweifel, ob eine vegetarische Ernährung das Richtige
ist, wenn ich nicht möchte, dass Tiere getötet werden. Ob mir klar sei, fragt sie mich
nämlich, dass jede Milchwirtschaft zugleich eine Fleischwirtschaft sei? Denn
für die Milch müssen die weiblichen Tiere Kinder bekommen. Die werden dann
früh, oftmals zu früh, von der Mutter getrennt. Die männlichen unter ihnen werden
gemästet oder schon als Kalb getötet, da sie anders keinen Nutzen mehr haben.

Aber ist
das immer so? Um das herauszufinden, besuche ich einen Bauernhof in meiner
Nähe, der eine muttergebundene Aufzucht und die ökologische Haltung seiner Ziegen
garantiert. Im Gespräch mit den engagierten und jungen Landwirt:innen erfahre
ich, dass auch hier die männlichen Jungtiere getötet werden. Jedes einzelne
wird dabei bis zum Ende in der Schlachterei persönlich begleitet. Ich frage
nach dem Warum. Und die Antwort ist so einfach wie erschreckend: Würden die
Kosten für die Haltung der Böcke mit in den Preis für die Milch und den Käse einfließen, die der Hof produziert, würde
niemand mehr dessen Produkte kaufen, sagt eine der Landwirt:innen: Die Leute würden diese Preise schlichtweg nicht bezahlen.

Danach
entscheide ich mich, vegan zu werden. Mit all den Fallstricken, die damit
verbunden sind. Denn zum einen leben genau solche Höfe davon, dass ihre
Produkte gekauft werden. Die Ziegen, die ich dort auf den Wiesen gesehen habe, sahen
zufrieden aus, und die Menschen, die sich um sie kümmerten, reflektierten ihr
Tun. Nun falle ich als Kundin weg. Ich lerne aber auch einen Landschaftspflegehof
kennen, auf dem die Tiere bis zu ihrem natürlichen Ende leben. Die Schafe und Esel
beweiden die Flächen und tragen damit zur Artenvielfalt bei. Dass dazu großer
Idealismus derjenigen gehört, die so einen Hof betreiben, erfahre ich aber
auch. Trotzdem: Keine tierischen Produkte mehr zu essen, bedeutet nicht
zwangsläufig, dass niemand mehr „Nutztiere“ hält. Was allerdings schwerer
wiegt, ist, dass ich nun mehr vegane Produkte im Supermarkt kaufe. Sie sind
oftmals in Plastik verpackt und ihre Grundlage wie Soja hat ökologische Nachteile,
etwa durch die langen Transporte und eine aufwendige Produktion. Konsequent
wäre, auch darauf zu verzichten.

Manche
wenden ein, dass meine Ernährung nicht mehr ausgewogen sei. Schließlich hätten
Menschen sich seit jeher von Fleisch, Fisch und Milchprodukten ernährt. Dem widerspricht der Kulturgeograf Werner Bätzing in seinem Buch . Die
Jäger:innen und Sammler:innen seien in ihrer Ernährung vielmehr auf sehr
unterschiedliche Lebensräume eingestellt gewesen, sie sei daher nicht biologisch, sondern
kulturell geprägt. Während sich die Menschen im subpolaren Raum durch die Jagd
ernährt hatten, aßen sie im tropischen Regenwald ausschließlich Pflanzen. Was
aber, so Bätzing weiter, alle diese Gesellschaften gemein hatten, war, dass sie
Tiere und Landschaft als beseelt verstanden: „Menschliche Eingriffe in die
Natur – das Töten eines Tieres oder die Brandrodung eines Waldstücks – stellen
eine Störung der natürlichen Ordnung dar, die entschuldigt werden muss“,
schreibt er. 

Alle Jäger- und Sammler-Gesellschaften wendeten daher viel Energie
für den Ausgleich ihres Handelns und die Heiligung ihrer Umwelt auf. Die Tiere,
die sie nutzten, waren keine Ressourcenquelle, sondern Teil ihres Lebens, für
den sie sich verantwortlich fühlten. Niemals taten sie Tieren unnötiges Leid an
oder töteten zu viele. Und auch bei der Transformation von Natur- in Kulturlandschaften
durch die frühen Bauerngesellschaften, erfuhren Tiere nicht das Leid, das wir
heute anrichten, da die Menschen damals weiterhin an einem Gleichgewicht und
einer familiären oder lokalen Versorgungsstruktur orientiert waren. Das ist
allerspätestens seit der Industrialisierung und Kapitalisierung aller unserer
Lebensbereiche, auch dem der Tiernutzung, nicht mehr gegeben.

Meine
Entscheidung habe ich deshalb nicht wegen einer gesunden Ernährung getroffen,
obwohl der Verzicht auf tierische Produkte das auch sein kann,
sondern sie bezieht sich auf die Art, wie wir leben und mit Tieren umgehen.

Der
französische Philosoph Michel Foucault weist in seinem Essay
darauf hin, dass jede Zivilisation Orte hat, die in sie hineingezeichnet und zugleich
Gegenplatzierungen sind, „tatsächlich realisierte Utopien“, die die
vorherrschende Kultur bestreiten oder infrage stellen. 

So verstehe ich auch
meinen Veganismus: als Antwort innerhalb eines Systems, in dem Tiere
ausgebeutet werden, keinen Wert an sich haben und kein ausgeglichener Kreislauf
zwischen ihnen und unserer Ernährung mehr geschaffen werden kann. Und darin
liegt vielleicht auch das „Abartige“ meiner Haltung, die mir am Frühstückstisch
der kleinen gemütlichen Pension begegnet: dass sie eben in einem kranken und,
je genauer ich hinsehe, pervertierten System entstanden ist. In einer ganz
anderen Welt würde ich vielleicht weiterhin Milch trinken, etwas anderes käme
mir nicht mal in den Sinn.

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