Immer neue Rekorde – Großbritanniens verfehlte Migrations-Ziele

Der britische Premierminister findet klare Worte. Die konservative Partei habe den Brexit für ein „Experiment offener Grenzen“ mit schockierenden Folgen genutzt. „Genauso ist das geplant gewesen, das war kein Unfall“, verurteilte Keir Starmer die jüngsten Zahlen zur Zuwanderung auf die britische Insel.

In den zwölf Monaten bis Mitte 2023 war die Bevölkerung durch Zuwanderung um 906.000 Personen gewachsen, hat das Office for National Statistics (ONS) mitgeteilt. Die ursprüngliche Schätzung von 740.000, schon das ein Rekordwert, wurde noch einmal um 22 Prozent übertroffen. Die jüngsten Zahlen, die zwölf Monate bis zur Jahresmitte 2024, zeigen zwar einen Rückgang, aber noch immer liegt die Nettozuwanderung bei 728.000 Menschen.

Beide Zahlen betreffen die Zeit, bevor die Labourpartei Anfang Juli nach 14 Jahren die Konservativen abgelöst hat. Entsprechend hielt Starmer mit seiner Kritik nicht zurück. Völlig aus dem Ruder gelaufen sei die Zuwanderung in den vergangenen Jahren. „Global Britain – erinnert Euch an diesen Slogan. Das haben sie damit gemeint. […] Und jetzt wollen sie es zur Seite wischen mit einem einfachen ‚wir haben es falsch angepackt‘. Das ist unverzeihlich.“

Mit dem Ausscheiden aus der Europäischen Union hat sich Großbritannien Anfang 2021 ein neues Zuwanderungsregime gegeben, bei dem Visa nach einem Punktesystem vergeben werden. Während die Nettomigration in den 2010er-Jahren grob zwischen 200.000 und 300.000 Personen schwankte, ist sie mit der Einführung dieser Regeln – mit Ausnahme der Pandemiezeit – rasch auf immer neue Rekorde gestiegen.

Schon vor dem Brexit-Referendum 2016 waren die Zuwanderungsraten immer wieder als zu hoch eingestuft worden. Migration und der Wunsch, die Kontrolle über die eigenen Grenzen wiederzuerlangen, gelten als zwei der Treiber für die Brexit-Entscheidung. Schon in dieser Zeit hatten die früheren Premiers David Cameron, Theresa May und Boris Johnson immer wieder eine deutliche Reduzierung auf fünfstellige Werte versprochen – ohne auch nur in die Nähe dieser Vorgabe zu kommen.

Eines der drängendsten Themen im Land

Starmer wollte sich nicht auf eine neue Zielgröße für die Zahl der Zuwanderer festlegen lassen. Er verwies darauf, dass das frühere Limit für ein Jahrzehnt gegolten habe, „ohne konstruktive Auswirkungen“. Für das neue Jahr kündigte der Premier eine Strategie zur Reduzierung der Zuwanderung an. Dazu gehören Anpassungen der Regeln für Arbeitsvisa. Unter anderem soll Arbeitgebern, die in der Vergangenheit auffällig geworden sind, etwa weil sie nicht den vereinbarten Lohn gezahlt haben, keine Genehmigung für Arbeitsvisa mehr erteilt werden. Eine umfassende Ausbildungsinitiative soll zudem das „blinde Vertrauen auf die einfache Lösung einer Einstellung aus dem Ausland“ beschneiden.

In der öffentlichen Wahrnehmung hatte die Zuwanderung in den Jahren nach dem Brexit-Referendum kontinuierlich an Bedeutung verloren. Inzwischen hat sich dieser Trend umgekehrt. In den monatlichen Umfragen der Marktforscher vom Ipsos nach den drängendsten Themen im Land rangierte Migration seit dem Sommer stets auf einem der ersten beiden Plätze, im Wechsel mit der wirtschaftlichen Entwicklung und der Lage des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS.

Doch trotz der Skepsis in der Bevölkerung: Die Regulierung der Zuwanderung agiert im Spannungsfeld mit den erklärten Zielen der Labour-Regierung, das schwächelnde Wachstum anzukurbeln und die medizinische Versorgung deutlich zu verbessern. Bei der Finanzierung der britischen Universitäten spielen ausländische Studenten, die in den Migrationszahlen berücksichtigt sind, ebenfalls eine sehr wichtige Rolle.

Zur Begründung für die erhebliche Korrektur der Vorjahreszahlen verwies das ONS darauf, dass die Zahl der Zuwanderer in den früheren Daten unterschätzt worden sei, die Zahl der Auswanderer aber überschätzt. Zusätzliche Informationen habe es unter anderem zu den Zahlen der Ukrainer, die ins Land gekommen sind, gegeben sowie zu jenen, die schon im Land waren, aber auf längerfristige Visa wechseln konnten. Das ONS betonte, es handle sich weiter um „offizielle Statistiken in der Entwicklung“. Weitere Informationen könnten damit künftige Korrekturen notwendig machen. Eine Meldepflicht gibt es in Großbritannien nicht.

Seit der Einführung des neuen Visa-Regimes 2021 habe sich das Muster der Zuwanderung deutlich verschoben, hatten die Statistiker des ONS bereits vor Monaten bemerkt. Migration aus den EU-Staaten hat seit dem Ende der Freizügigkeit deutlich abgenommen. Von den 1,2 Millionen Menschen, die in den zwölf Monaten bis Ende Juni ins Land gekommen sind, stammten zehn Prozent aus der EU. Unter dem Strich ist die Zuwanderung aus der EU seit 2021 negativ, mehr EU-Bürger verlassen die Insel als neue zuziehen.

86 Prozent oder 1,03 Millionen kamen aus dem Rest der Welt. Die restlichen fünf Prozent waren britische Staatsbürger, die nach längerer Abwesenheit ins Land zurückgekehrt sind. Mit 240.000 Zuwanderern war Indien das wichtigste Herkunftsland. Es folgten Nigeria (120.000), Pakistan (101.000), China (78.000) und Simbabwe (36.000).

Punktesystem für Arbeitsvisa

Wichtigster Grund für die Zuwanderung ist mit 40 Prozent eine Beschäftigung, einschließlich der Angehörigen des Bewerbers. 36 Prozent entfallen auf Studenten an britischen Unis. 84.000 Ankömmlinge, oder acht Prozent, haben in dem Zeitraum Asyl beantragt.

Die Wahrnehmung in der Bevölkerung ist indes verzerrt. Der Anteil der Asylbewerber wird regelmäßig deutlich überschätzt. Bei 37 Prozent wird er laut Daten der Denkfabrik British Future erwartet, mehr als viermal so hoch wie tatsächlich. Migranten, die mit einem festen Jobangebot ins Land kommen, werden mit 26 Prozent dagegen deutlich unterschätzt.

Dabei gibt es eine Reihe von Berufsgruppen, in denen sich die Briten sogar mehr Zuwanderung wünschen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung würde eine Steigerung der Zuwanderung bei Ärzten und Pflegepersonal begrüßen. Auch Altenpfleger, Ingenieure und Erntehelfer sehen deutlich mehr als ein Drittel als willkommen. Dagegen wünschen sich jeweils 40 Prozent der Briten weniger Studenten und Banker, die ins Land kommen.

Für Arbeitsvisa gilt in Großbritannien inzwischen ein Punktesystem. Mindestens 70 Punkte sind die Voraussetzung für eine längerfristige Aufenthaltserlaubnis von bis zu fünf Jahren. Punkte gibt es dabei unter anderem für den Stand der Ausbildung und Englischkenntnisse. Die verbleibenden 20 Punkte können zum Beispiel durch ein hohes Gehaltsangebot, Vorkenntnisse in einem Job, für den im Land die Bewerber knapp sind oder einen Abschluss wie eine Promotion erreicht werden.

Angesichts des großen Zustroms an Migranten hat die konservative Vorgängerregierung unter Premier Rishi Sunak seit dem vergangenen Herbst bereits eine Reihe von Verschärfungen für die Visa-Regeln eingeführt. So dürfen Studenten nur noch in Ausnahmefällen Angehörige mit ins Land bringen. Auch wer in der Altenpflege beschäftigt ist, kann Lebenspartner und Kinder nicht mehr ins Land bringen. Zudem wurde die Gehaltsgrenze, ab der ein Arbeitsvisum genehmigt wird, deutlich angehoben. Sie liegt inzwischen mit 38.700 Pfund (46.487 Euro) um fast 50 Prozent über dem früheren Wert. Ausnahmen gelten für Pflegepersonal und Lehrer an staatlichen Schulen.

Diese Maßnahmen könnten inzwischen Wirkung zeigen, lassen Daten des Innenministeriums vermuten, die bis Ende September reichen. Demnach sind die Bewerbungen für Visa im Gesundheits- und Pflegebereich um 65 Prozent gefallen. 19 Prozent weniger Studenten haben sich beworben. Die Zahl der angehörigen Bewerber von Studenten ist gar um 84 Prozent geschrumpft

„Noch sehen wir das gesamte Ausmaß der Visa-Verschärfungen nicht in den Daten“, sagte Ben Brindle, Forscher am Migration Observatory der Universität Oxford der BBC. Die anfänglichen Daten vom Sommer würden aber nahelegen, dass trotz dieser Restriktionen die Zuwanderung nicht unbedingt unter das Niveau aus der Zeit vor dem Brexit zurückfallen werde.

Vergleiche der Zuwanderung zwischen verschiedenen Ländern sind wegen der unterschiedlichen Muster der Migration nicht ganz einfach. In einem Vergleich von 2022 des Anteils der Bevölkerung, der im Ausland geboren wurde, lag Großbritannien mit 14 Prozent gleichauf mit den USA. Höhere Werte haben Spanien und Deutschland mit 16 und 17 Prozent.

Claudia Wanner schreibt für WELT vor allem über die britische Wirtschaft.