Als Kamala Harris in diesem so unwirklich wirkenden Wahlkampf von der Vizepräsidentin zur Präsidentschaftskandidatin der Demokraten wurde, stellte sie sich den Wählerinnen und Wählern eine Minute und 19 Sekunden lang noch einmal neu vor. In dieser eilig zusammengezimmerten Kampagne war der erste Wahlkampfspot zentral. Er sollte aus der Frau im Schatten Joe Bidens die künftige Präsidentin machen. Der Spot, der bislang allein auf YouTube mehr als 1,5 Millionen Mal aufgerufen wurde, hat eine zentrale Botschaft: Mit mir, Kamala Harris, werden die Amerikaner eine neue Form der Freiheit erleben. Mit ihr würden sich die Wählerinnen und Wähler gegen Hass und Angst stellen, sagt die Demokratin. „Wir entscheiden uns für etwas anderes, wir entscheiden uns für Freiheit.“
Beyoncé singt dazu , , , bevor Harris wieder einstimmt: „Die Freiheit, nicht nur irgendwie durchzukommen, sondern voranzukommen. Die Freiheit, sicher vor Waffengewalt zu sein. Die Freiheit, eigene Entscheidungen über unseren Körper zu treffen.“ Harris verspricht gleich zwei Formen von : die Freiheit, selbst etwas zu tun. Dazu aber auch die Freiheit, sich von etwas anderem zu befreien. Es ist ein gleichsam positiver und negativer Freiheitsbegriff, eine Unterscheidung, die der Philosoph Isaiah Berlin 1958 in seinem Vortag (PDF) definierte.
Positiv ist Harris‘ Freiheitsbegriff im Sinne der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Negativ im Sinne der Abgrenzung zur Politik der Republikaner. Die ist zwar aus deren Sicht genauso zentral im Freiheitsbegriff verankert, wird auf liberaler Seite aber als eine repressive Agenda verstanden, der sich die Bürger widersetzen müssen. Um beide Freiheiten zu erreichen, ist ein Sieg Kamala Harris‘ über Donald Trump essenziell. In dem simplen Wort liegt in diesem Wahlkampf für die Demokraten auf einmal wieder ungeheures Mobilisierungspotenzial.
Tim Walz kontrastierte diese zwei Interpretationen des Freiheitsbegriffs in seiner Rede auf dem Parteitag der Demokraten in Chicago Mitte August ganz konkret: „Freiheit. Wenn Republikaner das Wort Freiheit verwenden, meinen sie, dass die Regierung die Freiheit haben sollte, in eure Arztpraxen einzumarschieren. Unternehmen dürfen eure Luft und euer Wasser verschmutzen. Und Banken – sie dürfen ihre Kunden ausnutzen“, kritisierte er die Republikaner. Dagegen setzte er die demokratische Freiheit: „Wenn wir Demokraten über Freiheit sprechen, meinen wir die Freiheit, ein besseres Leben für sich selbst und die Menschen, die man liebt, zu schaffen. Die Freiheit, über die eigene Gesundheitsversorgung zu entscheiden. Und, ja, die Freiheit unserer Kinder, zur Schule zu gehen, ohne Angst haben zu müssen, auf dem Flur erschossen zu werden.“ Das sind plakative und starke Bilder. Der Staat in der Arztpraxis, wer kann das wollen? In den freiheitsliebenden Vereinigten Staaten doch wohl niemand.
Emotionales Metathema
Um Freiheit ging es in Chicago in beinahe jeder Rede. Das Publikum jubelte den Rednern dabei mit bis in die letzten Reihen ausgeteilten „FREEDOM“-Plakaten zu. Freiheit haben die Parteistrategen als Gewinnerthema in diesem Wahlkampf definiert. Josh Shapiro, Gouverneur von Pennsylvania, fasste die Gefühlslage kompakt zusammen: Trump hülle sich in den Mantel der Freiheit, doch was er verspreche, sei keine Freiheit. „Aber wisst ihr was, Demokraten? Wir sind die Partei der wahren Freiheit.“ Die Wähler müssen sich demnach also entscheiden, ob sie am 5. November auf der richtigen Seite der Freiheit stehen.
Der Versuch der Demokraten, wieder zur Freiheitspartei zu werden, kommt dabei keineswegs aus dem Nichts. Auch Präsident Bidens Wiederwahlkampagne hatte bereits auf den Begriff gesetzt. Bis er sich zum Rückzug von seiner Kandidatur gezwungen sah, lautete Bidens Botschaft: Der der das Land und die Demokratie nach innen und außen gegen Donald Trump verteidigt. Auch sein erster Wiederwahlspot begann mit der Betonung der persönlichen Freiheit, die fundamental für die Identität der Amerikaner sei. Nichts sei wichtiger und nichts mehr bedroht durch die Anhänger Trumps. Bidens Vision war eine düstere, fokussiert auf die Gefahr, die von einem weiteren Trump-Sieg ausgehen würde. „Seit Präsident Lincoln und dem Bürgerkrieg sind Freiheit und Demokratie hierzulande nicht mehr so stark bedroht gewesen wie heute“, sagte der amtierende Präsident in seiner Rede zur Lage der Nation im März. An 15 Stellen erwähnte Biden die Freiheit, Barack Obama nutzte das Wort als Präsident in seinen letzten drei kombiniert nur ganze vier Mal.
Mit Trump als politischem Gegner hatte sich die Freiheit also schon unter Biden als emotionales Metathema wieder ins kollektive Bewusstsein der Demokraten eingeschlichen. Durch Harris‘ Kandidatur aber kann es nun eine ganz andere Wucht entfalten. Denn ihre Kampagne fokussiert sich nicht nur darauf, das Gegenbild zu einem demokratiegefährdenden, potenziell autokratisch regierenden Trump zu entwerfen. Sondern skizziert eben auch die positiven Freiheiten für eine Zukunft unter demokratischer Führung. Etwas, was der Kandidat Biden nicht mehr zu leisten vermochte. Die Partei hat sich in dieser Hinsicht im letztmöglichen Moment dieses bis Juli so elenden Wahlkampfes selbst befreit.
Das Gefällige am Freiheitsbegriff ist, dass er nicht nur auf vielfältige Themen anwendbar ist, sondern auch über die eigene Basis hinausreichen kann. Keine politische Vokabel ist historisch zentraler in der DNA des Landes angelegt. Worauf bis heute viele Klischees und realitätsferne Ideale der US-amerikanischen Gesellschaft beruhen. Thomas Jefferson, einer der Gründungsväter der Nation, schrieb dem Land als Hauptverfasser die Freiheit und das Streben nach Glück 1776 in die Unabhängigkeitserklärung. Es war vor allem die Freiheit von einem König, erlangt durch eine Revolution.