Das Feuer war tödlich, jede Hilfe kam zu spät. Die mit
Benzin gefüllten Flaschen, die zwei Neonazis in der Nacht vom 23. November
1992 durch die Fenster eines Mehrfamilienhauses in Mölln geworfen hatten,
setzten das Treppenhaus in Brand und versperrten den Fluchtweg. In der
Flammenhölle starben die zehnjährige Yeliz Arslan und die 14-jährige Ayşe
Yılmaz; bei dem Versuch, sie zu retten, wurde ihre Großmutter Bahìde Arslan
ohnmächtig und verbrannte bis zur Unkenntlichkeit.
Die Toten von Mölln waren
noch nicht begraben, da brach der Streit schon los: Ist Deutschland ein
rassistisches Land? Gibt es organisierte Nazigewalt? Natürlich nicht, war von
empörten Bürgern zu hören, „rechter Terror“ sei eine Erfindung von Linken und
der Brandanschlag nur ein „Einzelfall“, ein „Dummejungenstreich“. Vielleicht
steckte ja die türkische Mafia dahinter, man wisse ja nie. Durch seinen
Pressesprecher ließ Bundeskanzler Kohl (CDU) ausrichten, an der Trauerfeier
werde er nicht teilnehmen. Er habe „weiß Gott andere wichtige Termine“ und
wolle „nicht in Beileidstourismus ausbrechen“ (PDF).
Zur Wahrheit jener Jahre gehört allerdings auch
dies: Hunderttausende demonstrierten damals gegen rechte Gewalt, allein die
Lichterkettendemonstration in München („Eine Stadt sagt Nein“) trieb 400.000
Menschen auf die Straße. Darüber hinaus gab es, wie Martina Priessners
Dokumentarfilm zeigt,
eine diskrete und sehr private Anteilnahme. Fast 900 Solidaritätsschreiben trafen nach dem rassistischen Anschlag in der
schleswig-holsteinischen Kleinstadt ein, viele davon waren an die örtliche
Teestube adressiert. Allerdings, und hier beginnt der Skandal, die meisten
Briefe erreichten die Angehörigen der Opfer erst gar nicht.
Nicht, weil die örtliche Post
geschludert hatte, sondern weil die Möllner Stadtverwaltung sie säckeweise
gesammelt, geöffnet und – Ordnung muss sein – säuberlich sortiert in den
Katakomben ihres Archivs hatte verschwinden lassen. Dort wären sie vergilbt,
hätte die Studentin Nora Zirkelbach die Sache nicht im Rahmen ihrer
Masterarbeit ans Licht gebracht – 24 Jahre später.
Allzu viele Briefe sind es nicht, die Priessner
einblendet, aber schon die kleine Auswahl geht dem Zuschauer unter die Haut.
Rührend hilflos suchen die – oft jungen – Absender Worte für einen Mord, für
den es keine Worte gibt; sie legen schlichte Zeichnungen bei, auf denen Flammen
aus einem Haus schlagen, Rauch steigt auf, im Garten Blumen, Schmetterlinge,
dazwischen schwarze menschliche Schatten. „Ich würde Sie gern trösten. Wir sind
alle Menschen, die Erde ist für alle da“. Eine „Oma aus Lübeck“ schreibt:
„Lieber kleiner Ibrahim. Es tut mir leid, dass Du so Schweres hast durchmachen
müssen. Kauf Dir bitte für die 20,– Mark ein Lieblingsspielzeug.“ Auch eine
Solidaritätsadresse der „überlebenden Frauen des KZ Ravensbrück“ lagert im
Archiv.
Aus vielen Zusendungen sprechen Angst und Scham. Angst vor den neuen
Rechten, die damals ganz ähnliche Parolen brüllten wie heute die AfD; Scham
wegen der Untaten „unserer Landsleute“. Dann die Bitte an die Arslans,
Deutschland nicht zu verlassen. „Ich bin auch Deutsche. Wir sind nicht alle
so.“
İbrahim Arslan ist der redegewandte Protagonist des
Films; er war damals sieben Jahre alt, als seine Großmutter ihn in höchster Not
aus dem Kinderzimmer rettete. Wie bei seinem Bruder Namik lässt ihm die
Vergangenheit keine Ruhe; die Zeit steht still, die Wunden wollen sich nicht
schließen. Namik überlebte, weil seine Mutter Hava ihn aus dem Fenster in ein
aufgespanntes Sprungtuch geworfen hatte. Bis heute quält ihn Überlebensschuld,
er wünscht sich, „ich wäre meine Schwester und meine Schwester wäre ich“. Gegenüber
seiner Frau und seiner Tochter hat Namik eine regelrechte Kontrollsucht
entwickelt; er selbst schützt sich mit einem dicken Körperpanzer und musste 90 Kilo abnehmen. Dann zeigt er seinen Arm, darauf hat er sich – „voll
krass“ – ein brennendes Haus tätowieren lassen. Das Tattoo sieht aus wie ein
Abwehrzauber, es bannt die Erinnerung, die Flashbacks und Panikattacken.
Kommen İbrahim und Namik Arslan im Film auf die
Möllner Behörden zu sprechen, spürt man eine tiefe Verbitterung. Wie die
Hinterbliebenen des Hanauer Attentats fühlen sie sich übergangen, alleingelassen und respektlos behandelt. Die unbeteiligte Ergriffenheit von
Politikern bei offiziellen Gedenkfeiern verletzt sie, falls sie überhaupt
eingeladen werden. „Wir sind doch keine Statisten.“ Möllns Bürgermeister ist
gewiss ein wohlwollender Mensch, doch Gefühle zu zeigen gehört nicht zu seiner
Arbeitsplatzbeschreibung. In tadelloser Sachlichkeit reiht der
Verwaltungsmensch freundliche Bemühenszusagen hintereinander. Das bürokratische
Problembeseitigungsinteresse trifft auf die Seelenlage von Traumatisierten, die
nur eines erwarten: die Anerkennung ihres Schmerzes.
Zusammen mit Ibrahim besucht Priessner drei der
Briefeschreiberinnen, mehr als 30 Jahre sind inzwischen vergangen. Man
liest sich die alten Briefe noch einmal vor, man schweigt zusammen, auf dem
Tisch brennt eine Kerze. Warum die Behörde die Solidaritätsschreiben damals
nicht an die Hinterbliebenen weiterleitete, darüber kann Priessners
Dokumentarfilm nur Mutmaßungen anstellen. War der Stadtverwaltung, die die
Öffentlichkeit anfangs zur Anteilnahme aufgerufen hatte, die unerwartete
Solidarisierungswelle „mit den Türken“ unheimlich? Wollte sie nicht als
Nestbeschmutzer dastehen? Sollten die Hinterbliebenen isoliert werden, damit
sie sich nicht bundesweit vernetzten? Oder war es bloß administrative
Gleichgültigkeit? Noch schwerer wiegt ein anderer Verdacht: Die Toten gehörten
kulturell nicht zu Deutschland und mussten darum auch nicht betrauert werden.
Wären die Opfer Deutsche gewesen, dann wären die Briefe ganz gewiss an sie
weitergeleitet worden.
