„Hörer mögen es überhaupt nicht, wenn sie angelogen werden“

ZEIT ONLINE: Sam Fragoso, wann ist ein Gespräch zwischen zwei
Menschen ein gutes?

Sam Fragoso: Sagen Sie’s mir! Ich mache mir über gute Gespräche keine
Gedanken.

ZEIT ONLINE: Als Journalist würde ich sagen, dass ein gutes
Interview bestenfalls auch ein gutes Gespräch ist.

Fragoso: Das halte ich für Quatsch. Ein Interview sollte
sich zwar wie ein Gespräch . Aber wenn man sich mit seinem
besten Freund bei einem Abendessen unterhält, dann folgt man dabei nicht wie ich im
Interview einer vorher durchdachten dramaturgischen Struktur und hat
auch nicht das komplette Leben des Gegenübers recherchiert. Also fragt man sein
Gegenüber auch nicht zwischendrin: „Hey, Dirk, als du im Jahr 1997 deine
Jungfräulichkeit verloren hast, wie ging es dir damit?“

ZEIT ONLINE: Es war 1990.

Fragoso: Dann hätten wir die Sache schon mal offiziell
bestätigt, aber wir machen später noch ein Factchecking mit Ihren Eltern ().
Aber ja: Alle Podcastinterviewer sagen natürlich, dass sie gute Gespräche mit
ihren Gästen führen wollen. Ich halte das auch für ein richtiges Ziel, als
Interviewer eine Konversation hinzubekommen, die sich warm anfühlt, freigiebig,
und bei der man den Eindruck bekommt, dass zwei Menschen Dinge miteinander
teilen. Doch ich gehe in ein Interview nicht mit der Erwartung hinein, es werde
so sein, als hinge ich mit meinen besten Freunden ab. Als ich mit meinem
Podcast angefangen habe, dachte ich das tatsächlich: Ich würde ein, zwei
Stunden mit jemandem reden und meinem Gegenüber das Gefühl geben, als seien wir
zwei Kumpel. Aber das war ein falscher Angang. Es war der eines damals
21-Jährigen.

ZEIT ONLINE: Was macht man mit 21 als Interviewer falsch?

Fragoso: Man geht zunächst mal vor allem nervös und ängstlich
in ein Interview. Und mit 21 möchte man gemocht werden von einem Gegenüber. Man
ist in der Regel deutlich jünger als seine Gesprächspartner, was kein
schlechter Ausgangspunkt ist, um eine nette Unterhaltung zu führen. Aber eine
nette Unterhaltung ist kein Interview. Da gibt es keine Spannung, kein
Nachfassen, kein Insistieren, keine Struktur.

ZEIT ONLINE: Was ist diese Struktur?

Fragoso: Vor jedem Interview schreibe ich ein Skript mit einer
Dreiaktstruktur mit Fragen zum Schaffen des Interviewgastes, zu dessen Leben
und Ideen. Und ich schreibe einen Epilog. Das bedeutet nicht, dass ich im
Interview selbst von dieser Struktur dann nicht abweichen würde, wenn es sich
ergibt. Mein Interview begreife ich wie eine Art Referendum über alle
Interviews, die diese Person je gegeben hat und die ich vorher möglichst alle
gelesen habe: Lass uns eines führen, das zarter, echter und ehrlicher ist als
die zuvor. Falls die Person etwas richtigstellen möchte, was aus ihrer Sicht in
der Vergangenheit falsch dargestellt wurde, gebe ich ihr die Gelegenheit dazu.
Und ja, es soll sich nicht nach einer bloßen
Aneinanderreihung von vorbereiteten Fragen anfühlen, auf die jemand antworten soll.

ZEIT ONLINE: Bevor Sie mit Ihrem Podcast anfingen,
haben Sie als Teenager bereits Filmleute interviewt, etwa für die Website des
einst berühmten US-Filmkritikers Roger Ebert. Diese Interviews waren, wie das,
was wir gerade führen, zur Verschriftlichung gedacht, nicht zum Anhören wie ein
Podcast. Ist das etwas grundsätzlich anderes?

Fragoso: Ich finde schon. Das ist auch der Grund, weshalb
viele Journalisten, die gut darin sind, Interviews für Zeitungen oder schriftbasierte
Onlinemedien zu führen, schlechte Podcaster sind.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Fragoso: Es ging mir am
Anfang ja auch so, ich hatte sechs Jahre Erfahrung als Printinterviewer, ich
war, glaube ich, gut darin. Dann startete mein Podcast, und ich war schlecht. Die
Ausgangssituation ist eine andere. Podcastern wird in der Regel mehr
Interviewzeit gestattet als Schriftmedien. Eine Taktik von Printinterviewern,
mit der wenigen Zeit umzugehen, ist dann: Sie schmeicheln den interviewten
Berühmtheiten, um ihnen in möglichst kurzer Zeit etwas Neues zu entlocken. Ich
habe diesen Zeitdruck nicht. Aber vor allem klingt es in einem Podcast furchtbar,
wenn man als Hörer merkt, dass der Interviewer sich beim Interviewten
einschleimt. Das spüren die Leute, und sie mögen keine Schleimer. Die Audiospur
ist viel verräterischer als das verschriftlichte Transkript
eines Interviews. Eine Stimme zu hören, schafft Transparenz.

ZEIT ONLINE: Als Interviewer macht man ein paar grundsätzliche
Erfahrungen, das geht uns, glaube ich, allen so. Eine lautet: Jeder Mensch, also
auch jeder Gesprächspartner, will seine Geschichte erzählen.

Fragoso: Das stimmt nicht ganz – alle Menschen wollen die
Version ihrer Geschichte erzählen, die ihnen selbst gefällt. In aller Regel ist
diese Fassung keine wahrhaftige Nacherzählung ihrer Lebensgeschichten.

ZEIT ONLINE: Richtig.

Fragoso: Dank meiner Vorbereitung kenne ich alle Geschichten, die die Leute, die ich interviewe, bereits von sich
selbst erzählt haben. Ich begreife mich nun nicht als Protokollant meiner Interviewpartner. Meine
Aufgabe ist es, neue Gedanken in das Gespräch einzubringen und das bereits
Bekannte, irgendwo schon einmal Gesagte, in einem anderen Licht zu betrachten.
Womöglich in einem, in dem die Interviewten selbst ihre Erlebnisse noch nicht
gesehen haben.

ZEIT ONLINE: Die Interviewten sind bei Ihnen fast
ausschließlich bekannte bis berühmte Menschen, die sich viel in der Öffentlichkeit äußern
und über die man viel zu wissen glaubt.

Fragoso: Und die allgemeine Annahme ist, dass Zuhörer von
berühmten Menschen und Ruhm an sich genervt seien. Das stimmt aber nicht,
glaube ich. Was stimmt: Hörer mögen es überhaupt nicht, wenn sie angelogen werden.
Berühmte Menschen erzählen in Interviews zumeist, dass ihr Leben großartig sei.
Dass sie dennoch dieselben Unsicherheiten wie alle verspürt hätten. Dass ihnen
Erfolg, Geld oder womöglich eine größere Menge an Antidepressiva über diese
Unsicherheiten hinweggeholfen hätten. Dass Altern schön sei und sie versuchen,
das in Würde zu tun, ohne schönheitschirurgische Eingriffe. Ja, und das ist
alles gelogen. Diese Lügen bewirken, dass sich unbekannte Menschen, die diese
Aussagen hören oder lesen, nicht nur allein fühlen, sondern sogar schlecht. Sie
denken: Diese Schauspielerin oder dieser Künstler oder Politiker oder Autor, den
ich liebe, die sind nicht nur anders als ich, sie haben nicht nur mehr Talent
als ich – sie sind mir auf fundamentale Weise fremd. Sie sind nicht wie ich.

ZEIT ONLINE: Diese Behauptung ist dem Ruhm ja inhärent und
zugleich seine Nebenwirkung: Menschen werden für etwas bekannt, und dann macht
ihnen der Ruhm zu schaffen.

Fragoso: Nur werden deren Existenzen etwa in der medialen
Darstellung bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Dabei, und das wäre meine
Arbeitshypothese, sind die Leben berühmter Menschen unseren letztlich doch sehr ähnlich.
Wir Journalisten drängen diese Leute im Gespräch allerdings nicht ausreichend
dazu, sich ehrlich zu erklären. Stattdessen wenden Medien die Ehrlichkeit einer
Berühmtheit hinterher gegen diese Person selbst, indem sie eine Art Geständniskultur
pflegen. „XY öffnet sich erstmals und berichtet von seinen Depressionen“,
steht über einem Interview oder Porträt, und dieser Dreh bestätigt implizit,
dass ansonsten nicht die volle Wahrheit erzählt wird. Außer in diesem einen
Text natürlich! Doch wir alle schleppen Scheiße mit uns herum. Als Interviewer bemühe
ich mich lediglich darum, mit Stars auch wirklich über deren Scheiße zu reden.
Ich sage nicht, dass das eigentlich ganz normale Leute sind. Ich sage nur, dass
Menschen halt Menschen sind. Und um das universell Menschliche an berühmten
Leuten herauszuarbeiten, führe ich Interviews mit ihnen. Das empfinde ich als
meine Aufgabe. Sonst hätte ich keine Lust auf den Job.

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