Hoffen auf sauberen Sprit

Glückliche und genervte Passagiere auf Urlaubsreisen, mäkelnde Umweltschützer und lärmgeplagte Anwohner, Start- und Landebetrieb von frühmorgens bis nachts: Am Hamburger Flughafen läuft es augenscheinlich wie in alten Zeiten. Noch sind zwar die Jahreszahlen von vor der Pandemie nicht wieder erreicht – die Spitzenauslastungen gerade in der Ferienzeit aber schon. Der Flugbetrieb wächst: Von Januar bis Juli hatte der städtische Betreiber Hamburg Airport 8,2 Millionen Passagiere – etwa zehn Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der Flugbewegungen stieg um rund sechs Prozent auf etwa 72.300.

Für Jan-Eike Blohme-Hardegen, den Leiter der Abteilung Umwelt bei Hamburg Airport, rückt nun ein Thema in den Fokus, das durch die Folgen der Pandemie eher in den Hintergrund geraten war. Wie schnell kommt die Branche auf dem Weg zu einer „klimaneutralen“ Luftfahrt voran? Der Eigenbetrieb des Hamburger Flughafens soll spätestens von 2035 an keine Treibhausgase mehr verursachen. Für die Airlines ist das komplizierter: Der nötige Kraftstoff zur Dekarbonisierung des Fliegens muss weltweit zur Verfügung stehen. In der Fachsprache heißt er „Sustainable Aviation Fuel“ (SAF). Er basiert als Bio-Sprit entweder auf organischen Substanzen, oder er wird mit Wasserstoff und Kohlendioxid synthetisch hergestellt und dem „fossilen“ Kerosin aus Erdöl chemisch nachgebildet. Für einen künftigen Flugbetrieb mit reinem Wasserstoff wiederum brauchen die Airlines auch neu zu konstruierende Maschinen.

Die Europäische Union schreibt den Fluglinien vor: Die Beimischung im Kerosin muss vom 1. Januar 2025 an mindestens zwei Prozent SAF betragen, sie steigt bis 2030 auf sechs Prozent und bis 2050 schrittweise auf 70 Prozent. Zudem gibt es Unterquoten für SAF, das mit Wasserstoff aus „grünem“ Strom und Kohlendioxid hergestellt wird, sogenanntes „E-Fuel“. Der Flughafen Hamburg ist darauf längst vorbereitet: „2011 hatten wir ein Pilotprojekt mit Lufthansa mit 1187 Flügen zwischen Hamburg und Frankfurt, bei dem auf einem Motor zu 50 Prozent SAF geflogen wurde, um die technische Machbarkeit nachzuweisen“, sagt Blohme-Hardegen. „Unser Tanklager ist seither so umgerüstet, dass es Bio-Kerosin und auch auf Wasserstoff basierendes, synthetisches Kerosin aufnehmen kann.“

Die Fluggesellschaften müssen sich nun wachsende Mengen an biogenen oder rein synthetischen Kraftstoffen sichern, an einem Markt, der gerade erst entsteht. Die Versorgung muss mit den steigenden Quoten synchron laufen – und zugleich auch mit dem stetig weiter wachsenden Flugverkehr. Die internationale Luftfahrtorganisation IATA erwartet, dass die Zahl der global geflogenen Passagierkilometer 2024 erstmals über der des Jahres 2019 – dem Jahr vor der Pandemie – liegen wird. Hamburg Airport rechnet für dieses Jahr mit etwa 14,5 Millionen Passagieren, im bisherigen Spitzenjahr 2019 hatte die Hansestadt etwa 17 Millionen Fluggäste.

Für Norddeutschland und den Flughafen Hamburg sieht Blohme-Hardegen ein Problem: „Es gibt aktuell in Deutschland noch keine ausreichenden Kapazitäten zur Produktion von SAF“, sagt er. „Für den industriellen Hochlauf müssen die politischen Rahmenbedingungen weiter angepasst werden.“ Zwei Vorhaben zur Herstellung von SAF im Norden wurden vor der Realisierung gestoppt. Das Projekt eines Industriekonsortiums in Hamburg-Billbrook wird nicht weiterverfolgt, das für zunächst 10.000 Tonnen SAF im Jahr geplant war. Und die Raffinerie Heide hat ihr Projekt eingestellt, eine Pilotanlage zur Herstellung von SAF auf Methanolbasis aufzubauen. „Der Grund dafür in Heide war, dass der Bund seine Fördermittel für das Projekt gestrichen hat, wie bei vielen anderen ähnlichen Projekten auch“, sagt Blohme-Hardegen. „SAF auf Methanolbasis ist nun zwar im Zertifizierungsprozess angekommen. Aber es ist extrem schade, dass die Produktion von SAF in Heide absehbar nicht aufgebaut wird.“

Das ist ein Rückschlag auch für den Hamburg Airport. Aus Heide beziehen die Betreiber des Flughafen-Tanklagers, die Unternehmen AFS und Air BP, fast ihren gesamten Bedarf. Zwar kann der Flughafen der Hansestadt konventionelles Kerosin und SAF auch aus anderen Quellen im In- und Ausland bekommen. Doch das wäre teurer und hätte eine deutlich schlechtere Ökobilanz. „Die Nähe zwischen der Raffinerie und dem Flughafen ist logistisch einfach unschlagbar und die Zusammenarbeit seit Jahrzehnten etabliert“, sagt Blohme-Hardegen. „Die Raffinerie in Heide hat eine sehr große Erfahrung damit, Raffinerie-Vorprodukte zu zertifiziertem Kerosin endzuverarbeiten.“ Zudem habe das Unternehmen „enorm viel Wissen speziell auch zur Herstellung von methanolbasiertem SAF aufgebaut“.

Das Bundesverkehrsministerium sehe bei SAF und E-Fuels „ein großes Potenzial für die Dekarbonisierung des Luftverkehrs. Diese nachhaltigen Kraftstoffe können einen entscheidenden Beitrag zur Erreichung der Klimaziele in der Luftfahrt leisten“, sagte eine Sprecherin der WELT AM SONNTAG. „Sie können in bestehenden Flugzeugen verwendet werden, ohne dass Änderungen an der Infrastruktur oder den Flugzeugen selbst erforderlich sind.“ Dies ermögliche „eine schnelle und effiziente Implementierung im Vergleich zu anderen Technologien wie Wasserstoff- oder Elektroantrieben“. Allerdings hatte der Bund vor dem Hintergrund seiner Haushaltskrise zwei Milliarden Euro Fördermittel für SAF weitgehend gestrichen, die aus Einnahmen der Luftverkehrsteuer finanziert werden sollten.

Bislang seien in Deutschland für die Entwicklung synthetischer Kraftstoffe „19 Projekte im Umfang von über 117 Millionen Euro“ gefördert worden, sagte die Sprecherin des Verkehrsministeriums. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) erhält zudem 130 Millionen Euro Unterstützung für den Bau einer Forschungsanlage in Leuna, Sachsen-Anhalt. Damit sollen Technologien für die Produktion strombasierter Kraftstoffe im industriellen Maßstab erforscht und entwickelt werden.

Aus Sicht der Luftfahrtbranche reicht diese Förderung zum schnellen Aufbau von SAF-Produktionen nicht aus. Airlines und Flugzeughersteller wollen sich dem „klimaneutralen“ Fliegen auf verschiedenen Wegen annähern: Für Kurzstreckenflüge bis zu 250 nautischen Meilen (rund 460 Kilometern) Länge könnten Turbinen- oder Propellerantriebe mit gasförmigem oder verflüssigtem Wasserstoff gespeist werden. Verflüssigter Wasserstoff – tief gekühlt und dadurch höher komprimiert – gilt als möglicher Kraftstoff auch für die Mittelstrecke bis zu 2000 Meilen. Der technologische Aufwand für die Speicherung und Kühlung von reinem Wasserstoff in Flugzeugen ist allerdings extrem hoch. Über Distanzen von 2000 Meilen hinaus kommt deshalb derzeit nur SAF infrage, das wie herkömmliches Kerosin transportiert und getankt wird. „SAF ist eine der Schlüsseltechnologien und -strategien für die Dekarbonisierung der Luftfahrt“, heißt es beim europäischen Luftfahrtkonzern Airbus, dem weltweit führenden Hersteller von Passagierjets.

Die Hamburger Luftfahrtwerft von Airbus, der weltweit drittgrößte Standort des zivilen Flugzeugbaus, arbeitet im Branchennetzwerk Hamburg Aviation und am Zentrum für angewandte Luftfahrtforschung (ZAL) eng mit etlichen anderen Akteuren in der Metropolregion zusammen, auch mit dem Hamburg Airport. Aus Sicht von Airbus kann es schnelle, deutliche Fortschritte bei der Reduktion von Treibhausgasen nur geben, wenn alle Einsparpotenziale beim Energieverbrauch in der Luftfahrt mit der Entwicklung neuer Antriebe und Kraftstoffe zusammenwirken. „Es gibt nicht den einen Weg zum Ziel, sondern mehrere, und man muss auch alle diese Wege nutzen“, sagt ein Airbus-Sprecher in Hamburg. „Beim Thema SAF geht es für Airbus und die Triebwerkshersteller derzeit vor allem auch darum, die Zertifizierung für die Nutzung von bis zu 100 Prozent SAF bis 2030 abzuschließen.“ Entscheidend sei, „dass es auch in der Bestandsflotte einsetzbar ist und einen stufenlosen Übergang ermöglicht. Bereits heute sind bis zu 50 Prozent SAF möglich.“

Die Behörde für Wirtschaft und Innovation geht davon aus, dass 2025 am Hamburg Airport etwa 7000 Tonnen SAF benötigt werden. Diese Menge wächst dann mit den steigenden Beimischungsquoten und einem voraussichtlich wachsenden Flugaufkommen. „Für die Versorgung des Luftverkehrs in Hamburg ist zwar eine Produktion unmittelbar am hiesigen Standort nicht entscheidend“, sagte ein Sprecher der Wirtschaftsbehörde WELT AM SONNTAG. „Allerdings bleibt absehbar die Produktion von SAF bundesweit deutlich hinter dem Bedarf zurück. Diese mangelnde Verfügbarkeit stellt aus unserer Sicht eine Hürde für die Transformation der Luftfahrt dar.“ Das Problem könne nicht durch eine kommunale Produktion gelöst werden, sondern sei „der Natur nach übergreifend. Wir haben Kontakt mit dem Bundesverkehrsministerium aufgenommen, um für eine stärkere Förderung entsprechender Projekte zu werben.“

Neue Perspektiven könnte in dieser Lage ein Großprojekt schaffen, dessen Bau am 12. September an der Süderelbe beginnen soll. Die Holborn Europa Raffinerie errichtet auf ihrem Gelände neben dem stillgelegten Kraftwerk Moorburg für umgerechnet 400 Millionen Dollar (358 Millionen Euro) eine neue Erzeugung von jährlich bis zu 220.000 Tonnen „grünem Diesel und nachhaltigem Flugkraftstoff unter Verwendung von Abfall- und Reststoffen sowie kohlenstoffarmem Wasserstoff“, kündigt das Unternehmen an. „Die Anlage ist so ausgelegt, dass sie zu 50 Prozent im ,SAF-mode’ gefahren werden kann“, sagte eine Unternehmenssprecherin der WELT AM SONNTAG. „Wenn wir die Anlage 2027 in Betrieb nehmen, werden wir anteilmäßig so produzieren, wie es für uns wirtschaftlich sinnvoll ist. Kontakt zur Luftfahrtbranche wurde bereits aufgenommen, und die ersten Gespräche wurden geführt.“

Airbus kalkuliert damit, dass sich die Emissionen an Treibhausgasen mit Kerosin auf biogener Basis um etwa 80 Prozent senken lassen, verglichen mit Flugzeugsprit aus Erdöl. Mit „E-Fuels“ aus Wasserstoff und Kohlendioxid wären bis zu 90 Prozent möglich. Auch Umweltexperte Blohme-Hardegen hebt die Unterschiede zwischen den beiden technologischen Pfaden hervor: „E-Fuels lassen sich effizienter in großen Mengen produzieren als Bio-Kerosin“, sagt er, deshalb müssten die Quoten für den rein synthetischen Sprit noch erhöht werden. Das Holborn-Projekt allerdings hat für die Luftfahrt in Hamburg dennoch zwei wesentliche Vorteile: Emissionsarmer Flugzeugkraftstoff wird künftig in der Stadt produziert. Und das, sagt die Unternehmenssprecherin, „werden wir ohne öffentliche Förderung realisieren“.

Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter der WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Er berichtet seit mehr als 30 Jahren über die deutsche und internationale Energiewirtschaft, die maritime Wirtschaft und die Verkehrs-Infrastruktur. Zu seinen Themen zählt auch die Entwicklung der Luftfahrtbranche. Seine aktuellen Artikel finden sie hier.