„Würde es Ihnen
etwas ausmachen, Ihre Sonnenbrille abzunehmen?“, wird Anna Wintour gefragt. „Ich lasse sie an“, putzt die
Chefredakteurin des Modemagazins die Frage weg. Das setzt den Ton
der sechsteiligen Hulu-Dokuserie (in Deutschland auf
Disney+ zu sehen), die chronologisch den Aufstieg der Zeitschrift zur
weltweiten Modelbibel und deren Einfluss auf die Neunzigerjahre erzählt. Von da
an hängt die Frage in der Luft, was diese Frau, die sich hinter einer riesigen Sonnenbrille
versteckt, über dieses Jahrzehnt und ihre Rolle darin denkt.
Anna Wintour, geboren 1949 in London und 1988 zur Chefredakteurin der
US-amerikanischen erkoren, begann ihre Herrschaft über die
Modewelt mit einem ikonischen Schwarz-Weiß-Cover. Für die Januar-Ausgabe 1990
fotografiert Peter Lindbergh fünf Supermodels, die das anbrechende Jahrzehnt später
dominieren würden: Naomi
Campbell, Linda
Evangelista, Christy
Turlington, Tatjana
Patitz und Cindy Crawford. Die Titelseite ist heute nicht nur das
berühmteste Cover überhaupt, sondern wahrscheinlich auch im
kollektiven Gedächtnis jener, die nicht verstehen, warum man sich eine
Zeitschrift für neun Euro kaufen sollte, die hauptsächlich aus Fotos und Anzeigen
besteht. In der dazugehörigen Titelstory ließ sich Supermodel Linda Evangelista mit
dem Satz zitieren: „Für weniger als 10.000 Dollar am Tag stehen wir gar nicht
erst auf.“ Seither bereut sie das Zitat in jedem Interview (auch in der Serie).
Es bringt die Anziehungskraft der von damals jedoch auf den Punkt.
In den frühen Neunzigerjahren befand sich die Weltwirtschaft in einer Krise und das
HI-Virus wütete – auch in der Modebranche. In der dagegen konnte
man einer Handvoll Supermodels dabei zusehen, wie sie mit der Concorde zu Shootings
an die unmöglichsten Locations der Welt geflogen wurden, um in Kleider zu
schlüpfen, für die das damalige US-amerikanische Durchschnittsjahreseinkommen
von 50.000 Dollar selten gereicht haben dürfte.
Diesen Bruch zwischen Lebenswirklichkeit und greift die
Serie zwar auf, führt ihn jedoch nicht weiter aus. Was unter anderem daran
liegen mag, dass der Serie eine zentrale Erzählstimme fehlt. Und dass die
als Co-Produzentin eingebunden war. Stattdessen kommen jede Menge berühmte
Zeitzeugen und vor allem Zeitzeuginnen zu Wort. Neben den wichtigsten
Stylistinnen und Redakteuren um Anna Wintour sind das die damaligen Supermodels
wie Kate Moss oder Tyra Banks, aber auch Ex-US-Außenministerin Hillary Clinton
oder die Hollywoodstars Gwyneth Paltrow, Nicole Kidman und Sarah Jessica
Parker. Dazu sind fast alle Designer und Designerinnen dabei, die die Neunzigerjahre geprägt haben: Stella McCartney, Marc Jacobs, Tom Ford oder John
Galliano. Letzterem soll Wintour nicht nur zu seinem Durchbruch bei Givenchy
und späteren Aufstieg zum Chefdesigner von Dior verholfen, sondern auch immer
Geld fürs Essen zugesteckt haben, weil sie „wollte, dass die Welt sein Genie
begriff“, wie sie es in einem ihrer wenigen Statements für die Serie sagt.
Es ist einigermaßen
unterhaltsam zu erfahren, dass Kate Moss nicht zwinkern kann, auch wenn sie es
für ein Covershooting hätte können sollen. Oder dass Kim Kardashian einst mit
dem Hund von Madonna (eine der großen Abwesenden) Gassi ging. Gleichzeitig
bleibt die Aufgabe der Einordnung der verschiedenen Trends, Styles und ihren
Durchbrüchen damit den Zeitzeuginnen überlassen. Allzu oft lassen sich deren Aussagen
wie folgt zusammenfassen: –
„So etwas hatte ich zuvor noch nie gesehen.“ Dieser Satz fällt, wenn
Supermodels plötzlich Streetstyle tragen; wenn Streetstyle plötzlich mit Haute
Couture kombiniert wird oder wenn plötzlich Hollywoodstars statt Models für das
Cover der posieren. Die Dramatik der Serie erschöpft sich in der
Abwechslung von aktuellen Interviewschnipseln und Aufnahmen aus den Neunzigerjahren. Für Spätgeborene reicht das für einen Crashkurs über die
wichtigsten Mode-Ereignisse des vorvorletzten Jahrzehnts, Spannung kommt dabei
nur selten auf.
Dabei hätte der Stoff das Potenzial dazu. Spätestens seit dem Roman und
dem dazugehörigen Film von Wintours ehemaliger
persönlicher Assistentin Lauren Weisberger weiß man, dass es in der Redaktion
der durchaus mehr Material für Drama gegeben hätte. Die
Dokumentation belässt es bei einer leichten Kontroverse zum Thema Grunge. Die ungewaschenen
Karohemden, zerrissenen Jeans und Unterröcke mit reingeäscherten Brandlöchern,
wie sie Kurt Cobain und Courtney Love damals trugen, waren zwar längst das
Sonntagsgewand der westlichen Jugend, Wintour habe darüber aber bloß die Nase
gerümpft, heißt es. Grunge war für sie Dreck und das Gegenteil davon, wofür die
stand und immer noch steht: Glamour. „Ich mag die Idee nicht, arm
auszusehen, wenn man es nicht ist“, pflichtet ihr in der Serie eine ihrer ehemaligen
Stylistinnen bei. Eine ihrer Redakteurinnen formuliert es etwas vorsichtiger: Wintour
sei nicht der größte Fan dieser Mode gewesen.
Nichtsdestotrotz ist ein Teil des Genies von Anna Wintour, dass sie sich auch
mit Menschen umgab, die ihr widersprachen. So schaffte es die legendäre
Stylistin Grace Coddington 1992 schließlich doch noch, eine Modestrecke in die
Zeitschrift zu schmuggeln, die mit Karomustern und Doc-Martens-Stiefeln dem
Grunge als neuer Jugendbewegung huldigte. Und es geschah, was immer wieder geschehen
ist: Ein neuer popkultureller Zeitgeist wurde von der in High Fashion
übersetzt. Materialistisch spitzfindig könnte man auch sagen: für eine globale
Elite kapitalisiert.
In der Frage der eigenen Verantwortung für die weniger rosigen Seiten
der Modewelt macht es sich dagegen etwas zu bequem. Zum
Beispiel als eine Lingerie-Fotostrecke mit Kate Moss als „Durchbruch des in den Mainstream“ beschrieben wird. Moss darf die Kritik daran damit
rechtfertigen, dass es die Leute damals wohl gestört habe, dass sie „so schlank“
gewesen sei. Unerwähnt bleibt dabei ihr späteres
(ebenfalls oft bereutes Zitat): „Nichts schmeckt so gut, wie sich dünn sein anfühlt.“
Die
Macht von Anna Wintour und der ist inzwischen geschrumpft. Das
liegt nicht nur an den allseits sinkenden Printauflagen, Konkurrentinnen wie oder und den sozialen Medien. Zumindest diskussionswürdig war
die Entscheidung, in der August-Ausgabe der US-amerikanischen Jill
Biden auf die Titelseite zu heben, in einer Phase, in der ein Großteil der
Wählerschaft nur noch hoffte, ihr Mann, US-Präsident Joe Biden, würde den Weg
für eine andere demokratische Präsidentschaftskandidatin frei machen.
Was die
Produktion der Serie betrifft, hat Wintour indes das richtige
Gespür bewiesen. Spätestens seit der Reunion von Oasis dürfte auch dem letzten
Gen-X-ler klar geworden sein, dass die eigene Jugend gerade historisiert,
beziehungsweise aufgewärmt wird. Diesem popkulturellen Gedenkgottesdienst hat
die nun auch in allem gebotenen Glamour gehuldigt.