Gott war sein Zeuge

Er war nicht für diese Zeiten gemacht. Vielleicht war er auch gar nicht von dieser Welt. Immerhin eines ist sicher: Das Surfen ist nie seine Leidenschaft gewesen. Brian Wilson hat uns die schönsten und himmlischsten Gesänge geschenkt, die sich in der Musik des 20. Jahrhunderts finden lassen, er hat uns in die höchsten Höhen der Lebensfreude und der Bejahung des Daseins geführt und in die tiefsten Tiefen des vergeblichen Ringens mit der Kunst und mit dem eigenen Ich. Gott allein weiß, was wir ohne ihn wären.

Geboren wurde Brian Wilson 1942 in einem Vorort von Los Angeles an der kalifornischen Pazifikküste. Er hatte zwei Brüder, Dennis und Carl, die gerne surften, aber Brian saß schon als Teenager lieber zu Hause, hörte Schallplatten und komponierte Harmoniegesänge im Stil der heiteren Vokal- und A-capella-Gruppen der Fünfzigerjahre, der Barbershop- und Doo-Wop-Ensembles. Sein Vater Murry, ein Maschinengroßhändler, mochte die gleiche Musik und förderte das Talent seines Sohns. Als dieser 16 war, kaufte er ihm einen Multi-Track-Recorder, mit dem Brian seine Vokalharmonien mit sich selbst einsingen konnte, er sang gewissermaßen mit sich selbst im Chor und brachte auf diese Weise die Klänge, die ihm im Kopf herumschwebten, wie in einem Spiegelkabinett seines Ichs in die Welt.

Regelmäßig verprügelte der Vater aber auch seine Brüder und ihn.

1961 gründeten Brian, Dennis und Carl gemeinsam mit ihrem Vetter Mike Love und dem Schulfreund Alan Jardine eine Band mit dem Namen The Beach Boys. Brian Wilson komponierte für sie mehrstimmige Chorgesänge zum Lobpreis des Strandlebens, des Surfens und des sonnigen Kaliforniens; ihre ersten Lieder trugen Titel wie , , , oder auch . Ein gewisser Hang zur Monothematik ließ sich nicht leugnen, aber gerade deswegen wurden The Beach Boys binnen kürzester Zeit zu Stars: nette kalifornische Strandjungs mit harmlosen Hobbys, die von Sommer, Sonne und niemals endenden Ferien sangen. Manchmal sangen sie auch vom Spaß am Fahren in schnellen Autos: hieß ein Stück mit diesem Thema aus dem Jahr 1964, zehn Jahre später von der deutschen Band Kraftwerk als „Fahren fahren fahren auf der Autobahn“ variiert.

The Beach Boys waren die größte US-amerikanische Popsensation der frühen Sechzigerjahre, perfekt in ihrer Verbindung von Musik und Image. Für das Image waren Dennis, Carl, Mike und Alan zuständig, während Brian sich immer tiefer ins Komponieren und ins Studio zurückzog, das er sich zu Hause eingerichtet hatte, mit einem Boden, der ganz von Strandsand bedeckt war: eine große Sandkiste, in der Brian saß und den Stimmen und Klängen nachforschte, die er in seinem Kopf hörte, und in der er die Musik der Beach Boys vollständig allein produzierte.

Zum ersten Mal in der Popgeschichte entstanden die Songs einer Band in ihrem eigenen Studio ohne einen von außen kommenden Produzenten, allein darin schon waren die Beach Boys Pioniere. Oder jedenfalls machte sie Brian Wilson dazu, der sich dabei freilich selbst immer weiter vom Rest der Gruppe entfernte. 1964 tourte er zum letzten Mal mit ihr, dann erlitt er während eines Fluges einen Nervenzusammenbruch. Er konnte den Stress des Tourlebens nicht mehr ertragen und auch nicht die immer noch andauernde gewalttätige Kontrolle, die sein Vater über seine Brüder und ihn und ihre Band ausübte. Damals begann er auch damit, sich aus den Zumutungen der Realität in die Wärme halluzinogener Drogen zu flüchten, im Jahr 1965 nahm er zum ersten Mal LSD.

Furchterregend vollendet

Und das LSD steigerte seine schöpferische Kraft weiter. Das erste Album, das er vollständig unter dem Einfluss der Droge aufnahm, war ein Meisterwerk, das alles übertraf, was es bis dahin im US-amerikanischen Pop gegeben hatte: , 1966 erschienen, handelte nicht mehr von Sonne und Stränden, sondern von Einsamkeit, Sehnsucht, verzweifelter Liebe, von der Suche nach Glück und Geborgenheit und von der Suche nach Gott.  heißt der erhabenste Titel auf diesem an Erhabenheit nicht armen Werk. , so versichert es im Refrain ein Liebhaber seiner Geliebten, doch kann er ihr dabei nicht versichern, dass er sie niemals verlassen wird. So sicher es ist, dass Gott uns zu trösten vermag, so heißt es noch lange nicht, dass er uns die Schmerzen erspart, die wir einander zufügen.

An den Kompositionen, Arrangements und Klängen von tüftelte Brian Wilson fast zwei Jahre, er reicherte des klassische Pop-Instrumentarium mit Waldhörnern, Flöten, Saxofon, Akkordeon und Orgel an, und er mischte noch viele Geräusche hinzu, die er auf Alltagsgegenständen erzeugte, auf Plastikflaschen und Coladosen, mit klappernden Löffeln und Fahrradklingeln. Vor allem aber schrieb er die schönsten Harmonien, die man sich vorstellen kann, man höre noch einmal oder das herzzerreißende : Wie Wilson hier den Kanongesang arrangiert mit all seiner stimmlichen Differenzierung von Bass bis Falsett, all den Ornamenten und unterschiedlichen Tempi; wie er den rhythmischen Fortlauf der Stücke aufs Spiel der Stimmen und auf die verschiedensten Instrumente verteilt; wie sich der Wechsel der Harmonien, die gesamte Musik wie in Wellen durch den Resonanzkörper bewegt und dabei doch in der elegantesten, erhabensten Weise in einer unerreichbaren Ferne verharrt – das klingt auch beim vielhundertsten Hören so staunenswert, so furchterregend vollkommen wie beim ersten Mal. 

wurde zum größten Erfolg der Beach Boys, es markierte aber auch das Ende der Band, wie sie Anfang der Sechziger entstanden war: Zwar waren die anderen Mitglieder noch als Sänger und Chöre zu hören, doch hatten sie an der Entstehung der Kompositionen keinen Anteil mehr gehabt, ihnen missfielen die Themen und die sonderbaren Sounds, sie wollten den Strand und die Sonne zurück. Der nächste Song, den Brian Wilson nach dem Erscheinen von dann schrieb, kam ihnen scheinbar entgegen. Aber nur scheinbar: erzählte von dem, was der Titel versprach, von guten Vibrationen in einer heilen Welt; doch unter den heiteren Sounds ließ Brian Wilson ein Theremin flirren, ein Instrument, das mit elektrischen Schwingungen geisterhaft wirkende Geräusche erzeugt. Es legte eine zweite, unbehagliche Ebene unter den Song, fast wie ein todessehnsüchtiges satanistisches Mantra.

Danach war der Bruch nicht mehr zu kitten. Während der Rest der Beach Boys 1967 durch Japan tourte, verkroch Wilson sich in seinem Studio und tüftelte an einem nächsten Album mit dem Titel . Es sollte sein Opus magnum werden, die Quintessenz seines musikalischen Schaffens: eine , wie er sein Projekt selbst annoncierte. Die Texte zu den immer vertrackteren Arrangements und Klängen ließ er sich von seinem neuen Freund, dem damals noch unbekannten Songschreiber Van Dyke Parks, verfassen. Als die Beach Boys nach Hause kamen und sahen, welche Art von Kompositionen sie als Nächstes einstudieren sollten, verweigerten sie jedoch kurzerhand die Kooperation: weil ihnen die dauernden Tempo- und Harmoniewechsel als völlig bühnenungeeignet erschienen; weil sie nicht zu Unrecht zu der Ansicht gelangten, dass die mit Haushaltsgeräten, Glöckchen und Gemüse erzeugte Musik zu ihrem bisherigen Image nicht passte. Ein Übriges taten Van Dyke Parks‘ sinistre Texte, in denen es um neblige Felder und religiöse Erfahrungen ging: „Ich versteh nicht, was das heißt, und wenn ich das nicht verstehe, sing ich’s auch nicht“, soll Mike Love gesagt haben. Schon das Vorgängeralbum trug seinen Titel nach einem Ausspruch von ihm: „Das klingt, als wär’s im Zoo aufgenommen worden.“

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