Genau der Edelstein, den das Festival braucht

Als ich das letzte Mal mit dem
Regisseur Tom Shoval telefonierte, hatte er noch Zeit. Es war Februar vor einem
Jahr, die Welt interessierte sich wenig für ihn, er hatte gerade seine Kinder
ins Bett gebracht. Damals sprachen wir, er im milden Tel Aviv, ich im kalten München,
über David Cunio, für den sich die Welt tragisch wenig interessierte.

David Cunio war verschleppt worden
am 7. Oktober. Aber bevor er ein Gesicht auf einem Geiselposter wurde, war er Schauspieler,
Bruder, Vater, Kibbuznik. Tom Shoval drehte seinen ersten großen Film
mit David Cunio und dessen Zwillingsbruder in der Hauptrolle, 2013
wurden sie damit auf die Berlinale eingeladen. war Shovals Debüt,
es war auch David und Eitan Cunios erste Rolle, sie spielten zwei Brüder, die
aus Geldnot, wegen des drohenden Abstiegs der Familie, der Angst, sich zu
verlieren, Eifersucht und
Jugendwahn, ein Mädchen kidnappten. All das war eigentlich schon verrückt genug – war die Wirklichkeit inzwischen so uninspiriert, dass sie bei der Kunst klaute?

Shoval wunderte sich damals aber vor allem, warum die Berlinale, die
doch sonst nicht mit politischen Botschaften geizte, nicht an den entführten Schauspieler
David Cunio erinnern wollte? Seit
Wochen war die Berlinale gebeten worden
, sich für ihn einzusetzen, eine Freilassung
zu fordern, wie es das Festival in den letzten Jahren immer wieder getan hatte für Künstler aus der Berlinale-Gemeinschaft. Niemand reagierte.

Tom Shoval klang an diesem
Februarabend damals nicht wütend, er gab niemandem Schuld, aber seine Stimme
war schwer vor Enttäuschung. „Es muss alles getan werden,
damit er freikommt.“

Ein Jahr später wollen alle mit Tom Shoval reden. Seit mehr als drei Stunden sitzt er in einem Zimmer im Berliner Hyatt-Hotel,
beantwortet Fragen internationaler Journalisten. Seit unserem Telefonat hat er
einen neuen Film gemacht über David Cunio, , und dafür sogar Nancy Spielberg, die Schwester
Steven Spielbergs, als Produzentin gewonnen. Der berichtete, das ZDF interviewt ihn, im Nebenraum sitzt
Weltstar Jacob Elordi. 

Shoval schaut mit den hellen Augen unter dem
Käppi hoch, das er
schon gestern auf der Bühne trug während der
Weltpremiere seines neuen traurigen, intimen und sehr guten Films. Er sei nervös gewesen, weil es vielleicht politische Kommentare
geben würde. „Hattest du Angst, die Leute würden plötzlich über Gaza oder
Netanjahu reden?“, frage ich, immerhin hatte am selben Tag Tilda Swinton in einer Pressekonferenz ihre Bewunderung für die
Boykottbewegung BDS betont, die paradoxerweise wiederum zum
Boykott der ganzen Berlinale
aufrief und nach deren Logik so ein Film niemals
gezeigt werden könnte. „Nicht Angst“, sagt Shoval. „Aber David ist kein
Werkzeug für Politik. Er ist ein Mensch. Das hier ist ein Notfall, es geht um
Leben und Tod. Es tut mir weh, dass Leute diesen Fakt runterspielen, um über das
große Ganze zu reden. Das Gegenteil müsste der Fall sein.“

Warum er diesen Edelstein ausgerechnet auf dieses Festival brachte?

Und tatsächlich kippte es bei
dieser Premiere nur einmal fast. Ein Wunder, da es
einem die Tage so leicht machen, vor Wut zu brennen. Ein Zuschauer
meldete sich bei der Diskussion: Warum Shoval diesen großartigen Film, diesen Edelstein, hierher bringe? Ausgerechnet nach Berlin, wo sie die Plakate der Geiseln von
den Wänden reißen, nur in der Synagoge blieben
sie hängen, und auch nur, weil die Polizei sie dort bewacht, wo auf den
Straßen der 7. Oktober gefeiert worden sei, wo sie letztes Jahr auf diesem
Festival doch nicht mal von David Cunio reden wollten, aber bei der Preisverleihung
kein Problem hatten, Israel zu kritisieren? Tom Shoval schaute über die Reihen
hinweg und sagte ruhig: „Ich kann mir keinen besseren Ort für die Premiere
meines Films als die Berlinale vorstellen.“ 

Dazu muss erwähnt sein, dass die neue Festivalleiterin Tricia Tuttle einiges anders machen möchte und versprochen hat, sich bei David Cunio für das Schweigen auf der
letzten Berlinale zu entschuldigen. Aber es geht
in dieser Geschichte nicht um Fehler, Versäumnisse, deutsche Festivals oder gute Schauspielerinnen,
die den BDS gut finden. Das hier ist die
seltene Geschichte über die Bedeutung eines Menschenlebens. Über ein Band
zwischen zwei Brüdern, das auseinandergerissen wurde. Über mindestens eine
Welt, die zerstört wurde. Und darüber, wie viel Macht das Kino am Ende noch
gegen die Wirklichkeit hat.  

Shoval schrieb den Film mit
Archivmaterial vom -Filmdreh. Darüber liest er seinen Brief: „Lieber
David, ich spreche zu dir durch das Kino.“ Er hat David Cunios Angehörige interviewt,
seinen inzwischen mageren, immer rauchenden Zwillingsbruder Eitan, den Vater, dem
nichts mehr schmeckt, die Mutter, die sagt: „Ich wache erst wieder auf, wenn
meine Jungs zurück sind.“ Seine Frau Sharon, die David Cunio sogar durch die Arbeit
an kennenlernte. Die jetzt immer erst weint, wenn die zwei kleinen
Töchter das Haus verlassen haben. Und er schneidet Szenen dazwischen, die David Cunio selbst drehte. Cunio filmte das Kibbutz Nir Oz, das kleine Dorf, in dem
er aufwuchs, blieb und glücklich war. Abendessen an Schabbat mit Freunden und
Familie, wie sein Vater eine Orange schält, die Kamera zoomt durch den
Orangenhain, in der Ferne flackert Gaza, und Cunio sagt: „Das Licht am Ende des
Tunnels.“ Schnitt.

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