Europa ist in Sorge: Die USA könnten ihre Truppen abziehen, die EU müsste die Ukraine allein beschützen, allein mit Russland fertig werden. Aber sind wir dazu überhaupt in der Lage?

Wenn wir nicht sofort umsteuern, dann nicht, sagt Susanne Wiegand. Die Top-Managerin hat so tiefe Einblicke in sicherheits- und militärpolitische Geheimnisse wie kaum jemand. Bis Februar war Wiegand Chefin beim Rüstungshersteller Renk. Das Augsburger Unternehmen ist Weltmarktführer bei Panzergetrieben, beliefert u.a. die Ukraine und Israel.

In BILD warnt Wiegand, dass Deutschland weder sich selbst noch seine Verbündeten schützen könnte. „Die Bundeswehr ist aktuell nicht so ausgestattet, dass sie in allen Dimensionen über einen längeren Zeitraum durchhaltefähig und kriegstüchtig ist. Sie kann sich weder umfassend selbst verteidigen noch in großem Umfang helfen“, so die Expertin.

Wie lange würde die Bundeswehr gegen Putins Armee bestehen?

BILD will wissen: Könnten wir uns gegen Russland militärisch verteidigen?

Die Bundeswehr könnte „bei einer einzelnen Aktion“ ihre Kräfte mobilisieren, aber „für einen langwierigen Konflikt fehlen die notwendigen Ressourcen“, sagt Wiegand.

Aber „Wenn wir auf die Ukraine blicken, sehen wir einen Krieg, der bald ins vierte Jahr geht. Für eine derart lange Auseinandersetzung fehlen uns derzeit sowohl das Personal als auch die notwendigen Munitions- und Materialbestände“, stellt die Expertin klar.

Wiegands bittere Einschätzung: „Wären wir im Falle eines russischen Angriffs wie im Februar 2022 allein auf uns gestellt, ohne alliierte Partner, könnten wir nur wenige Tage, vielleicht Wochen durchhalten. Doch als Teil der Nato verlassen wir uns darauf, dass unsere Verbündeten gemäß Artikel 5 schnell zu unserer Unterstützung eilen.“

Russland geht „gestärkt“ aus Ukraine-Krieg hervor

Die Gefahr: Moskau rüstet im Turbo-Tempo auf.

„Russland hat seine Wirtschaft auf Kriegsproduktion umgestellt und fertigt große Stückzahlen an Waffen und Munition“, sagt die frühere Rüstungsmanagerin. „Zudem verfügt das Land über drei Jahre Kriegserfahrung, wodurch es nicht geschwächt, sondern gestärkt aus dem Ukraine-Krieg hervorgehen kann.“

Sie höre „aus berufenem Munde, dass Russland pro Jahr etwa vier Millionen Schuss Artilleriemunition produziert – mehr, als die gesamten Nato-Europa-Staaten gemeinsam“.

Wiegands Russland-Warnung: „Diese Kombination aus laufender Kriegswirtschaft und imperialistischen Zielen stellt aktuell die größte Bedrohung für uns dar.“

Anders steht es um die deutschen Streitkräfte. „Die Bundeswehr hat kein grundsätzlich schlechtes Equipment – ihre Flugzeuge, Panzer und Technologien sind modern“, sagt die Managerin. Auch die Soldaten seien gut ausgebildet.

„Haben zu wenig von allem“

„Das Problem liegt vielmehr in der Menge: Wir haben schlichtweg zu wenig von allem. Besonders in den letzten drei Jahren haben wir es nicht geschafft, die dringend benötigten Lücken schnell genug zu schließen und unsere Fähigkeiten auszubauen.“

Dabei könnte die EU – wenn sie nur wollte. Europa habe dreimal so viele Menschen, eine neunmal größere Wirtschaftsleistung und eine fünfmal größere Industrieproduktion.

Doch auch an Personal mangele es der Bundeswehr, sagt Wiegand. „Selbst wenn plötzlich Hangars voller Flugzeuge, Panzer und Schiffe zur Verfügung stünden, was nützt das, wenn das Personal fehlt?“

Dennoch brauche die Bundeswehr mehr Material. „Natürlich lassen sich Schiffe oder U-Boote nicht über Nacht bauen“, stellt die Expertin klar. Aber die Produktion müsse „dringend beschleunigt“ werden. „Insbesondere in Bereichen, die für die Durchhaltefähigkeit entscheidend sind, wie die Ersatzteilbestände oder die Munitionsversorgung.“

Zögerlichkeit sei in der Landesverteidigung nicht mehr möglich. Nicht in diesen Zeiten.