Gefangen im Rausch

Von ganz klein auf, wenn wir Kellog’s schlürfend unsere ersten Disney-Pixar-Filme konsumieren, legt sich eine Gewissheit über unser Bewusstsein: Wie deprimierend unsere Lebensumstände auch sein mögen, wir sind insgeheim für Großes bestimmt und befinden uns, es weiß nur noch niemand außer uns, auf einer Heldenreise. Abenteuer, Prüfung, Belohnung, Verwandlung,

Nun kommt den meisten Menschen im Laufe ihres Lebens doch irgendwann der leise Zweifel, ob das alles so aufgeht wie erträumt. Und so fragt sich auch Res, die junge Protagonistin in bei welchem Akt ihrer „Quest“ sie sich denn nun befindet: „Die Apotheose muss kurz bevorstehen. Oder hinter ihr?“

Der Titel ist ein Jugendwort, steht für also „wahnhaft“. Und genau darum geht es im zweiten Roman der Popjournalistin Julia Friese: um die Wahnwelten, in die uns die Medien- und Konsumkultur befördert. Um ihre falschen Versprechen. Oder, in den Worten von Frances Scott, Res’ Projektionsfläche und größter Popstar des Planeten: „Wenn Sie also sagen, dass Polly Pocket eine Realitätsflucht ist, dann frage ich mich, ist die Zeit, die ich vor Cerealienkartons und Spielzeugkatalogen, vor dem Fernseher und vor VHS-Kassetten gesessen habe, nicht die Realität gewesen?“

Die Handlung von lässt sich schnell zusammenfassen: Als Res, vermutlich Journalistin, mit feuchten Fingern „in der Steckdose Halt“ sucht, erleidet sie einen Stromschlag. Sie stirbt, das Leben zieht an ihr vorbei. Der Höhepunkt ihres inneren Films: ein Interview mit ebenjener Frances Scott. Sie ist vermutlich lose an Britney Spears angelehnt, wofür das Aufwachsen in einfachen Verhältnissen und der mütterliche Drill sprechen. Jedenfalls: Res verhaut das Interview, verhaut die Chance ihres Lebens. Heroischer Lebensanspruch und Lebenswirklichkeit klaffen auseinander.

Man muss den Text allerdings sehr aufmerksam lesen, um überhaupt eine Handlung auszumachen. In Wirklichkeit ist ist Res’ innerer Film ein halluzinierender Gedankenrausch, der sich – so steht es im Klappentext des Buches – in das „Unterbewusstsein der westlichen Populärkultur“ eingräbt. Ein wilder, fragmentarischer, assoziativer Trip, der ein bisschen an William S. Burroughs oder Thomas Pynchon erinnert. Die Welt der Nullerjahre entfaltet sich entlang von wiederkehrenden Leitmotiven dieser Zeit, durch MTV, Fanta und Kellog’s Cornflakes. Dabei wirft Friese die ja eigentlich klassische popliterarische Frage auf: Wie viel authentisches Ich ist in dieser von Symbolen und Codes durchzogenen Warenwelt überhaupt möglich?

Die Antwort liefert sie gegen Ende: Eine wundersame Frau erörtert dort die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Während die rechte Hirnhälfte die Welt wahrnehme, sagt sie, sei die linke die „Public-Relations-Abteilung“: „Sie erfindet Gründe, die uns stützen, uns in Kohärenz zusammenhalten“ – sie lässt uns daher glauben, es gebe da so etwas wie ein Selbst.

Nichts ist echt, alles Storytelling. Und das Leben im Rückblick ein zuckerwattesüßer MTV-Clip am Boulevard of Broken Dreams – das wäre zumindest eine Lesart dieses melodischen und etwas rätselhaften Textes. Und sicherlich gibt es weit mehr Lesarten: Zwischen all den popkulturellen Referenzen kann jeder seinen eigenen Zugang finden, solange er eben bereit ist, sich auf diese wahnhafte Lesereise einzulassen.

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