1. Das Schlangengemälde
Die beste Freundin eines Buchmessebesuchers ist die Straßenbahnlinie 16. Sie fährt duldsam hinaus aufs Gelände, zu den Glashallen am Stadtrand, das dauert eine kleine Weile. Man kann diese Zeit mit der Frage zubringen, warum man eigentlich nicht in Leipzig wohnt, sondern leider irgendwo anders, während man an einst vornehmen Prachtbauten vorbeischnurrt, an räudigen Hinterhofparkplätzen, die nach letzten Versprechen von Abenteuer aussehen, obendrüber am Morgen, in den Worten der Dichterin Friederike Mayröcker: blauschielender Himmel. Man ist sogar zur Aussicht gezwungen, ganz nah an der Fensterscheibe, die anderen Fahrgäste drücken von hinten, sie alle wollen ja dasselbe, es sind mehr als in den vergangenen Jahren, und an der Endhaltestelle, wo die Luft wieder besser wird, bildet sich schon die Einlassschlange, die wahrscheinlich längste und ganz sicher belesenste in Deutschland an diesem Tag. Die Messehallen sind noch einige Hundert Meter entfernt, ein kleiner Kurs in verwirrter Schicksalsergebenheit. „Worte bewegen Welten“ heißt das Motto der Buchmesse in diesem Jahr. Draußen bewegt sich erst einmal nichts, vielleicht nur zentimeterweise, trotz vieler Worte über die Welt, ihre Zurichtung und Sicherheitskonzepte. Kurze Frage an einen Ordner am Wegesrand: Was ist denn hier los? – Wissen wir auch nicht genau.
Es ist ein Gedränge aus Schlangen und Nebenschlangen, stellenweise erhebliche Pulkbildung, das entfernt an Schlachtengemälde aus dem alten Hollywood erinnert, vielleicht läuft sogar noch der Geist von Charlton Heston herum, dann hätte das mehrfach empört der Schlange entweichende „Das hab ich ja noch nie erlebt!“ endlich einen höheren Sinn. Die größte Ruhe bewahren junge Erwachsene mit exzentrischen Perücken und Gummischwertern, manche tragen japanische Schuluniformen oder haben sich in die Rüstung eines Roboters gewuchtet, die angereisten sogenannten Anime-Cosplayer sind bester Laune, wogegen unter manchen Fachbesucher-Cosplayern die Zuwendungsbedürftigkeit steigt („Ich habe einen VIP-Pass!“), weil es noch immer nicht vorangeht.
Dabei hätten alle Zeit für schöne Gedanken, zum Beispiel, wie sich Krokodile wohl mit ihren kurzen Armen die Nase putzen würden, in welchen Gegenstand man sich am liebsten verwandeln könnte, wie die Wolken persönlich heißen, die der Fernsehmaler Bob Ross stets so liebevoll auf die Leinwand gekratzt hat, oder ob es etwas Langweiligeres gibt, als sich über Schlangestehen zu beklagen. Irgendwann kommt man ja an, hält seine Eintrittskarte unter ein mäßig begabtes Lesegerät und stellt fest, dass man noch gar nicht viel verpasst hat, hinten auf der Bühne räuspert sich der Moderator im Blumenhemd erst noch philosophisch warm. Man hätte jetzt nur dringend gern einen Kaffee von da drüben. Da, wo alle anderen auch schon wieder stehen.
2. Die wortkargen Großschriftstellerinnen
Es gab eine Zeit, da zeichneten sich Großschriftsteller vor allem dadurch aus, dass sie den Germanisten ihre Aufsätze gleich mit in die Feder diktierten – und der Welt ihren Nachruhm dazu. Heute hingegen muss man ihnen schon auf die Pelle rücken. Zumindest bissen sich die beiden Herausgeberinnen Julia Schöll und Anke Biendarra auf der Leipziger Buchmesse am Donnerstagnachmittag ordentlich die Zähne aus, als sie Jenny Erpenbeck anlässlich des gerade erschienenen 246. Heftes der Literaturzeitschrift das sich mit Erpenbecks Werk befasst, über ihr Schreiben, ihren Ruhm und das Geheimnis ihres Erfolgs ausfragen wollten. Erpenbeck war im vergangenen Jahr in Großbritannien mit dem International Booker Prize ausgezeichnet worden, der als eine Art Vorstufe zum Literaturnobelpreis gilt, als Ritterschlag auf dem Weg zur Weltliteratur. Der Andrang war groß.
Die Sekundärliteratur zu ihren Werken? Ja, die kenne sie, so Erpenbeck. Sie verstehe bei deren Lektüre aber nicht, wie sie mit ihrem Schreiben Teil von Diskursen sein könne, die sie selbst nicht kenne. Der Ruhm? Bis 2018 habe sie als „Osttante“ nicht einmal eine Agentur gehabt, alles selbst geregelt, umso glücklicher sei sie jetzt, mit Andrew Wylie einen der mächtigsten Literaturagenten der Welt an ihrer Seite zu haben, der auch internationale Stars wie Salman Rushdie und Bob Dylan zu seinen Klienten zählt. Wie sie immer wieder dazu komme, „historische Romane“ wie ihren Bestseller zu schreiben? Über das Genre könne sie gar nicht so viel sagen, aber man solle doch bitte unbedingt ihre Essays mit dem Titel lesen, die im Übrigen in den USA viel aufmerksamer rezipiert worden seien. Da stehe alles drin. Aha. Nun sind Schriftsteller, die lieber schreiben, als über ihr Schreiben zu sprechen, keine Seltenheit.
Und doch ist es erstaunlich, dass Christian Kracht, der in diesem Jahr für seinen 2021 erschienenen Roman für den Booker Prize nominiert ist, ebenfalls nur ungern über seine Literatur sprechen will und sich wortkarg gibt. Bei der Premierenlesung seines neuen Romans Mitte März im Berliner Ensemble kam er in abgewetzter Barbourjacke und rotem, kariertem Schal auf die Bühne, setzte sich, las vier Kapitel, nippte hin und wieder an seinem Wasserglas und verschwand dann wieder. Und auch jetzt in Leipzig sah man ihn wieder in exakt jenem Outfit, das wie die Rüstung eines blonden Nibelungenhelden an seinem Körper zu haften schien. Dem Erfolg tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil. Nur wie man so nah an den Nobelpreis kommt, würde das Publikum dann doch gern mal erfahren.