„Fleißiges Land“? Fast jeder zweite Deutsche will weniger arbeiten

Es war ein kurzer, fast salopp formulierter Satz, der den Ton der Debatte bis heute prägt: „Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit.“ Dass, was Steffen Kampeter, Geschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), vor einigen Monaten sagte, schien die Stimmung in großen Teilen der Wirtschaft gut zu beschreiben: Mit Blick auf die Überalterung müssten Arbeitnehmer künftig wieder mehr ranklotzen, um das Wohlstandsniveau halten zu können.

„Wir werden länger arbeiten müssen“, sagte Kampeter wörtlich. „Eine gute Work-Life-Balance bekommt man auch mit 39 Stunden Arbeit in der Woche hin.“

Zuspruch kam von prominenten Ökonomen wie Michael Hüther, aber beispielsweise auch aus der Union: Schnell machte die Forderung nach einer 42-Stunden-Woche die Runde.

Auf der anderen Seite kritisierten Politiker anderer Parteien und Gewerkschafter die Aufforderung scharf. Die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten – Stichwort Vier-Tage-Woche – ist mittlerweile fester Bestandteil in den Tarifrunden bei Ver.di und Co.

Nun zeigt sich: Kampeters Appell scheint bei den Deutschen ungehört verhallt zu sein. So ist der Wunsch nach mehr Freizeit unter den Beschäftigten ungebrochen hoch.

Eine neue Erhebung im Auftrag des Karrierenetzwerks Xing zeigt, dass 49 Prozent der Arbeitnehmer gerne weniger arbeiten möchten. 30 Prozent sprechen von einer erhöhten Belastung und einer schlechten Atmosphäre am Arbeitsplatz. Befragt wurden Anfang Juli 3500 Arbeitnehmer.

Pro Kopf arbeiten die Deutschen seit der Wiedervereinigung weniger

Diese Werte wollen nicht so ganz zu den Jubelmeldungen von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) passen. „Deutschland ist ein fleißiges Land“, sagte Heil kürzlich mit Bezug auf eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Deren markige Überschrift in den Nachrichtenagenturen lautete zwar „In Deutschland wird so viel gearbeitet wie nie zuvor“.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich hat der Rekord an geleisteten Arbeitsstunden – knapp 55 Milliarden Stunden waren es 2023 – einen simplen Hintergrund: Noch nie haben in der Bundesrepublik so viele Menschen gelebt wie heute; die Erwerbstätigkeit erreichte zuletzt mit 46,2 Millionen ein Allzeithoch. In der Konsequenz stehen unter dem Strich mehr Arbeitsstunden.

Und auf der anderen Seite zeigt die Statistik: Pro Kopf arbeiten die Deutschen seit der Wiedervereinigung weniger. Waren es laut DIW im Jahr 1991 noch 38 Stunden und 54 Minuten in der Woche, kamen Arbeitnehmer 2023 auf 36 Stunden und 32 Minuten.

Teilzeit-Beschäftigung der Frauen unter Durchschnitt

Und die Tendenz ist weiter rückläufig, wie nicht zuletzt die jüngsten Tarifrunden gezeigt haben. In der Breite versuchen die Gewerkschaften, eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit durchzusetzen. Prominentes Beispiel war im Frühjahr die Lokführergewerkschaft GDL um Claus Weselsky, die eine 35-Stunden-Woche verhandelte.

Der Anstieg des Arbeitszeitvolumens erklärt sich vor allem aus der höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen. Zwischen 1991 und 2022 ist der Anteil um 16 Prozentpunkte auf 73 Prozent gestiegen. Allerdings arbeitet fast die Hälfte der Frauen in Teilzeit, was zu einer im europäischen Vergleich relativ geringen durchschnittlichen Arbeitszeit aller Beschäftigten von 34,7 Wochenstunden führt.

Diese Statistik führt oft zur Fehlinterpretation, die Deutschen würden viel weniger arbeiten als andere. Ein internationaler Pro-Kopf-Vergleich ist ohne Berücksichtigung der Erwerbsbeteiligung allerdings wenig sinnvoll, wie etwa Holger Schäfer, Ökonom am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) betont. Würde sich doch die Stundenanzahl pro Person erhöhen, wenn Teilzeitbeschäftigte gar nicht mehr arbeiten gingen.

Dennoch zeigt die Statistik: Auch unter Männern steigen die Zahlen der Teilzeitbeschäftigten. Und rund ein Drittel der Beschäftigten ist sogar bereit, sich für mehr Freizeit „freizukaufen“, wie es in der Erhebung von Xing zeigt. Für mehr Urlaubstage wären 34 Prozent der Befragten bereit, weniger Geld zu bekommen.

Allerdings lehnten sechs von zehn Befragten die Idee ab, mehr zu arbeiten, um dem Fachkräftemangel und daraus resultierenden Stress entgegenzuwirken. Während die älteren Generationen der „Babyboomer“ und „Gen X“ jeweils zu 63 Prozent sagten, dass Mehrarbeit nicht notwendig sei, hielten „Millennials“ und „Gen Z“ dies mit jeweils knapp über 50 Prozent für etwas wichtiger.

Mit den richtigen finanziellen Anreizen könnten sich jedoch mehrere Befragte vorstellen, zusätzliche Stunden zu leisten: Geeignet wären demnach Bonuszahlungen und Prämien, ein höheres Gehalt oder zusätzliche Urlaubstage.

Xing-Geschäftsführer Thomas Kindler zieht daraus ein klares Fazit: „Diese Ergebnisse zeigen uns, dass Beschäftigte in Deutschland weniger denn je bereit sind, ihr Privatleben ihrem Job unterzuordnen, es sei denn, die Bedingungen stimmen.“

Jan Klauth ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Arbeitsmarkt-Themen, Bürgergeld, Migration und Sozialpolitik sowie Karriere-Themen. Den zugehörigen Newsletter können Sie hier abonnieren. 2023 und 2024 arbeitete er für einige Monate in den USA.