Die Alte Welt scheint abgehängt. Europa gilt im Rennen um die ökonomische und technologische Vorherrschaft als hoffnungslos unterlegen. Aber der Kontinent bekommt eine letzte Chance. Sie hört auf den Namen künstliche Intelligenz (KI). Ausgerechnet dort, wo Europa gar keine richtige Rolle spielt, liegt in Wahrheit die finale Chance.
Dafür müssen sich der Kontinent und seine Eliten entscheiden, jetzt die richtigen Weichen zu stellen. Das beginnt mit einem anderen Verständnis von Datenschutz, reicht über eine neue Innovationspolitik mit weniger Bürokratie und endet in einer neuen mutigeren Denkweise in der Bevölkerung. Das war die Quintessenz des WELT-KI-Gipfels in Berlin, auf dem die Größen von Wirtschaft und Politik am Mittwoch zusammengekommen sind.
„Die KI-Revolution kann den Wohlstand so befördern wie die neuzeitliche Erfindung des Buchdrucks. Darunter sollten wir es nicht machen“, sagte Alexander Schweitzer, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz (SPD). „Wir werden zu einem anderen Umgang mit Daten kommen müssen in der KI-Ära. Sonst werden sich Unternehmen anderswo ansiedeln, und zwar nicht anderswo in Europa, sondern gleich in den USA oder in China.“
Tatsächlich hat KI das Zeug dazu, die globale Rangordnung zu verändern. „Künstliche Intelligenz ist das schicksalsentscheidende Buzzword“, sagte Mathias Döpfner, Vorstandschef des Medienkonzerns Axel Springer, zu dem auch WELT gehört. Das gelte für die globale wirtschaftliche sowie die politische Entwicklung. „Die politische Rivalität zwischen den USA und China wird sich auch daran entscheiden, wer die bessere KI entwickelt.“
Europa läuft Gefahr, in diesem Wettstreit zurückzubleiben. Ein Grundproblem der EU: In dem verzweifelten Versuch, die US-Internetkonzerne einzubremsen, hat man in den vergangenen Jahren Digitalgesetze geschaffen, die auch die eigenen Start-ups hart einbremsen. Insbesondere bei der KI-Regulierung ist Europa vorgesprintet, die Kommission ist stolz, als erster Kontinent weltweit ein Regelwerk für die KI-Entwicklung verabschiedet zu haben.
Doch die Gesetze zum Datenschutz und zur Souveränität bremsen inzwischen die KI-Innovation in der Europäischen Union aus, sagte Axel Voss, Digitalpolitiker und Koordinator der EVP im Rechtsausschuss des Europäischen Parlamentes: „Die europäische Datensouveränität ist wichtig, die Bürger möchten Datensicherheit, aber sie möchte auch nicht verarmen. Wir brauchen eine Art digitalen Klimawandel in Europa und insbesondere in Deutschland. Wenn wir weiter so agieren, wird es ein Kampf David gegen Goliath bleiben.“
Voss warnte auf dem WELT-KI-Gipfel vor den Folgen des europäischen Fokus auf Datenschutz – wer heutzutage Daten lösche, gebe wertvolle Ressourcen aus der Hand: „Wenn wir souverän sein wollen, müssen wir uns auch eigene Datenlagen schaffen. Wir müssen Wettbewerb und Datenschutz zusammen denken. Wenn uns das gelingt, hätten wir eine Chance – aber es wäre auf den letzten Drücker.“
In Deutschland wächst derweil der Frust, wenn analoge Gesetze die digitale KI-Innovation fast unmöglich machen. „Die Komplexität in Deutschland ist ein Alptraum, beispielsweise gibt es 17 Anlaufstellen für Verbraucherbeschwerden oder 18 Anlaufstellen für Datenschutz“, sagte Nicole Büttner-Thiel, Gründerin von Merantix Momentum. „Was wir brauchen, ist keine laschere, sondern eine einfachere und fokussierte Aufsicht, um Innovation zu fördern.“
Wie frustriert die Anwender selbst auf der Behördenseite sind, offenbarte Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit: „Datenschutz ist wichtig, aber die Regeln, die wir derzeit im öffentlichen Dienst haben, bremsen uns aus“, sagte Nahles. „Momentan erhalten wir schon 70 Prozent der Arbeitslosmeldungen digital, aber wir dürfen wegen der Erreichbarkeitsanordnung nicht einmal die Telefonnummern und E-Mail-Adressen unserer Kunden speichern.“
Auch für die Nutzung von Rechenzentren gebe es noch immer strikte Regeln. „Wir können zurzeit keine Cloud nutzen, außer unsere private Cloud“, beklagte Nahles. „Es wäre hilfreich, wenn wir die analoge deutsche Gesetzgebung ins digitale Zeitalter überführen könnten. Das scheint aber im Moment keine Priorität zu haben, weil viele womöglich gar nicht erkennen, wie die vorhandenen Regeln das System derzeit blockieren.“
Dabei biete künstliche Intelligenz große Chancen auch für die Arbeitsagenturen. „KI kann uns bei der Bundesagentur für Arbeit helfen, die Qualität unserer Arbeit zu verbessern, sie kann uns helfen, schneller zu werden und das Matching von Arbeitssuchenden und Stellen zu verbessern“, sagt Nahles. Allerdings dürfe die KI dann keine Blackbox sein. „Wir wollen natürlich den Quellcode der KI kennen, wir wollen wissen, wie kommen Empfehlungen zustande“, sagte Nahles.
Doch nicht nur die Regulierung bremst die KI-Innovation aus – auch die Skalierung fehlt bislang komplett. Denn Europa fehlt schlichtweg der Kapitaleinsatz, der für das Training von großen künstlichen Intelligenzen unabdingbar ist: „Die Ausgaben für KI auf europäischer Ebene sind lachhaft. Wir müssten die geplanten Investitionen eigentlich verzehnfachen“, sagte Voss.
SAP, ASML, Dassault sind an der Börse abgehängt
Wie weit Europa zurückliegt, offenbart ein Blick an die Börse. Alle Unternehmen, die mit KI zu tun haben wie etwa Nvidia, Microsoft oder Alphabet, sind gut 16 Billionen Euro wert. In Europa bringen SAP, ASML, Dassault & Co noch nicht mal eine Billion Euro auf die Börsenwaage.
Der Draghi-Report zur Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents hatte beklagt, dass in den vergangenen 50 Jahren kein einziges Unternehmen neu entstanden ist, das mehr als 100 Milliarden Euro wert ist. Und bei den Start-ups hat der Alte Kontinent einen Startnachteil, weil es weniger Risikokapital in Europa gibt. Die EU hat seit 2008 jedes dritte Tech-Unicorn verloren, weil die Firmen den ausländischen Geldgerbern folgten und ihren Standort verlagerten. Vor allem die USA profitieren davon.
Dabei sind junge Tech-Firmen wichtiger denn je, damit Europa und vor allem Deutschland nicht abgehängt wird. „Die Produktivität in Deutschland ist 2024 auf dem Niveau von 2019“, sagte Sebastian Dettmers, Vorstand des Arbeitsvermittlers Stepstone. „Wenn wir es nicht schaffen, die Technologie einzusetzen, um die Produktivität zu erhöhen, werden wir angesichts der demografischen Herausforderungen erleben, dass der Wohlstand in unserem Land sinkt.“
Doch der Blick von außen auf Deutschland und Europa fällt optimistischer aus als die Innenperspektive: IBM-Europachefin Ana Paula Assis rief zum Optimismus auf: „Deutschland, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und führender Patenterfinder, sollte die Chancen der KI-Revolution nutzen. Alle notwendigen Voraussetzungen sind gegeben.“
Vor allem aber warnte ausgerechnet OpenAI davor, sich beim Blick auf die KI-Entwicklung allein auf die großen Sprachmodelle und Chatbots zu konzentrieren: „Europa kann optimistisch sein“, sagte Jason Kwon, Chief Strategy Officer bei OpenAI, in seiner Gipfel-Keynote. „Denn die KI-Wirtschaft ist viel mehr als nur Sprachmodelle. Wenn Europa schnell übernimmt, integriert und Innovationen hervorbringt, kann es auch eine Führungsrolle übernehmen.“
Benedikt Fuest, Tobias Kaiser, Andreas Macho, Philipp Vetter und Holger Zschäpitz berichten als Wirtschafts- und Finanzredakteure für WELT. Olaf Gersemann ist Ressortleiter Wirtschaft.