Europa wird zur Fotokulisse

Das schöne Grödnertal, speziell St. Ulrich im Herzen der Dolomiten, ist neuerdings ein Magnet für chinesische Touristen aller Altersklassen. Hauptsächlich sich selbst vor der spektakulären Alpinkulisse fotografierend, fahren sie mit den Liftanlagen geschwind in die Höhe und wieder herab. Die Südtiroler und die Touristen aus Europa würdigen sie dabei nur weniger Blicke. Die Reisenden aus Fernost wirken ganz in ihre eigene Welt versunken.

Warum St. Ulrich, das schmucke, aber entlegene Bergdorf 1250 Meter über dem Meer, so plötzlich ausgerechnet bei chinesischen Touristen so hoch im Kurs steht – die Einheimischen wissen es nicht. Sie staunen eher darüber, wie völlig barrierefrei die Kurzzeitgäste aus China Hochzeitsgesellschaften und viele andere private Szenerien ablichten.

Es könnte eine einfache Momentaufnahme des Tourismus in dieser Zeit sein, durchaus auch ein Spiegelbild respektlos auftretender europäischer Reisender in aller Welt, wie man sie ja seit Jahrzehnten kennt. Es könnte Ausdruck einer normalen und in erster Linie erfreulichen wirtschaftlichen Entwicklung sein – nach Europäern und US-Amerikanern, Japanern und Südkoreanern sind endlich auch viele Chinesinnen und Chinesen wohlhabend genug, in großer Zahl zu reisen.

Doch die Chinesen an der Seiser Alm vor den Gipfeln von Langkofel und Plattkofel sind auch ein Sinnbild für eine ganz andere Entwicklung: Sie zeigen den Aufstieg Chinas, der Einparteiendiktatur, deren Politik und Wirtschaft nach mehreren Jahrzehnten einer relativ stringenten Wachstumspolitik eine Art Mittelstand von inzwischen mehr als 200 Millionen Menschen hervorgebracht hat – mehr als 15 Prozent der chinesischen Bevölkerung. Menschen, die sich ausgiebige Auslandsreisen leisten können, und die selbstbewusst zeigen, wer die wichtigste Wirtschaftsmacht der Zukunft ist.

Chinas Ankunft in Europa auch auf der touristischen Ebene erinnert gerade dieser Tage zugleich auch schmerzlich daran, wie der Alte Kontinent absteigt, wie er sich durch Faschisten, Populisten und Russlandversteher in Landes- und Nationalparlamenten selbst zerlegt, wie sich die Europäische Union durch politische Naivität und wirtschaftliches Versagen immer weiter schwächt.

Europa scheint in dieser Zeit wie paralysiert, und es kann sich offenbar nicht zur Wehr setzen – Chinas Protektionismus stellt die EU keine wirksamen Mittel entgegen. Erst recht kann sich Europa, sollte es einmal ohne den Beistand der USA auf sich selbst gestellt sein, militärisch nicht gegen ein ultraaggressives Russland verteidigen.

Europa scheint den großen Entwicklungen hilflos zuzusehen, während die Chinesen diesen Teil der Alten Welt immer mehr ins Herz schließen – als Absatzmarkt für ihre zu Dumpingpreisen erzeugten Waren, und als eine wunderschöne Kulisse für ihre Urlaubsfotos auf chinesischen Smartphones.