Europa hat viele Trümpfe in der Hand. Es muss sie jetzt ausspielen

Die Fernsehbilder sind kaum zu ertragen. Donald Trump und J.D. Vance demütigen Wolodymyr Selenskyj im Oval Office als undankbaren Kretin. Den Präsidenten der Ukraine, die seit drei Jahren einem barbarischen Angriffskrieg Russlands standhält.

Man muss sich immer wieder daran erinnern, warum die Ukrainerinnen und Ukrainer diesen Krieg aushalten – auch deshalb, weil sie als freie Menschen in einem freien Europa leben, weil sie Europäerinnen und Europäer sein wollen.

Europa, die Europäische Union und die mit ihr verbundenen europäischen Staaten, sollten sich von Trumps Geschmacklosigkeit nicht einschüchtern lassen. Ganz im Gegenteil sollte sich Europa ermutigt fühlen, jetzt endlich die Bremsen und die Leinen loszumachen. Europas Potenzial, wirtschaftlich, technologisch, politisch, kulturell, ist gigantisch und nicht ansatzweise erschlossen. Auch deshalb nicht, weil wir Europäer uns jahrzehntelang auf US-amerikanische Verteidigung, billiges russisches Erdgas und den chinesischen Absatzmarkt bequem verlassen haben.

Lange Zeit haben sich die EU und ihre Kommission in das Falsche verbissen und das Wichtige zugleich versäumt: Wir brauchen eine schlagkräftige Verteidigung, einen freien Markt, moderne Verkehrswege und Rechtssicherheit – aber kein lähmendes Netz von immer mehr neuen Normen und Nörmchen.

Trump, Putin und Xi zwingen den Alten Kontinent zu einem sehr unbequemen, aber längst überfälligen Neustart. Schon heute könnte Europa die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf viel wirkungsvoller unterstützen – und schon in wenigen Jahren ließe sich die Verteidigung der europäischen Nato-Staaten auf eine weitgehend eigene Grundlage stellen, auch ohne die USA.

Das Abkommen mit den Mercosur-Staaten weist den Weg

Europa sollte das dringend wollen, wenn es nicht auf Dauer in die Rolle des Kriechers und Bittstellers geraten will. Ein freundlicher Brief von König Charles III. aus der Hand des britischen Premierministers Keir Starmer, um „König Donald“ zu schmeicheln, so wie dieser Tage im Weißen Haus? Europa hat viel mehr Trümpfe in der Hand.

Das neue Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten in Südamerika weist den richtigen Weg, vielleicht auch zu einer künftigen Freihandelszone mit Indien. Und auch die alten Weggefährten Kanada, Japan, Südkorea, Taiwan, Australien und manche andere folgen, wenn auch mit unterschiedlichem Akzent, erfreulicherweise noch immer demselben Weltbild: Mit Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechten lebt es sich besser als mit Armut, Straflager und Imperialismus russischer und chinesischer Couleur.

Donald Trump ist nicht Amerika und auch nicht das Gewissen seiner Nation. Millionen von Freundschaften, Liebesromanzen und Geschäftsbeziehungen zwischen Europa und den USA werden seine Amtszeit überstehen.

Europa hat seine besten Jahre noch vor sich. Schon heute, beim Gipfeltreffen in London, könnte Good Old Europe mit der Arbeit daran beginnen.

Olaf Preuß ist Wirtschaftsreporter von WELT und WELT AM SONNTAG für Hamburg und Norddeutschland. Seit mehr als 30 Jahren berichtet er auch über Entwicklungen in den Staaten Europas.