Eine Stunde lang stand Kaja Kallas (47), die neue EU-Außenbeauftragte und frühere Regierungschefin Estlands, am Abend im Brüsseler EU-Parlament Rede und Antwort.
Besser gesagt: Sie wiederholte wortreich, was sich die Europäische Union mit Blick auf Syrien nach dem Sturz von Folter-Diktator Assad erhofft: Dass die Ruhe gewahrt wird, dass es keinen neuen Bürgerkrieg gibt, dass trotz der Islamisten in den Reihen der Befreier die Minderheiten geschützt werden. Dass es keine Rache und Vergeltung gibt von den Assad-Gegnern – und keine neuen Flüchtlingsströme. All das wolle man „im Auge behalten“.
Nur: All das hatten die Abgeordneten schon der Kallas-Erklärung vom Montag entnehmen können, die vielen seltsam spät und dünn erschien. Was sie jetzt gerne gehört hätten: Einen EU-Plan. Oder wenigstens einen ersten Ansatz davon.
Kritik an Methode „Abwarten und Tee trinken“
Dies entpuppte sich als frommer Wunsch. Der Belgierin Hilde Vautmans (52, liberale Renew-Fraktion) platzte schließlich der Kragen: „Sollte man nicht schneller sein?“, frage sie in Anlehnung auf Frankreichs Macron, der längst einen eigenen Sonderbeauftragten für Syrien bestimmt hat, und an Russland, das schon seit Sonntag in Kontakt mit den neuen Machthabern steht.
Und direkt an Kallas gerichtet: „Sollten Sie nicht nach Damaskus reisen, einen Dialog starten?“ Die Methode „Abwarten und Tee trinken“ könne sich auch als falsch erweisen.
Die Estin, sichtlich erstaunt über die scharfe Attacke, antwortete, man warte Weißgott nicht ab, glaube aber, „zusammen mit unseren Regionalpartnern“ mehr erreichen zu können, als ohne „klare Richtung“ nach Damaskus zu reisen.
Sie hätte auch sagen können: Vor dem EU-Außenministertreffen nächsten Montag in Brüssel sind mir die Hände gebunden. Bis dahin gibt es nicht die Spur einer EU-Strategie, sondern nur einen langen Wunschzettel. Oder aber: Ich bin erst zehn Tage im Amt, fragt meinen Vorgänger Josep Borrell, warum die EU im Nahen Osten praktisch ohne Einfluss ist.
Immerhin: Anfang nächster Woche schaltet sich EU-Chefin Ursula von der Leyen (66, CDU) ein, fliegt in die Türkei, um mit Präsident und Hamas-Freund Erdogan über Syrien zu sprechen.
EU-Parlamentarier trauen „Rebellen“ nicht
Mehrere Abgeordnete hatten sich zuvor skeptisch zu den neuen Machthabern in Damaskus geäußert, speziell zur HTS unter dem – angeblich geläuterten – Rebellen-Anführer Abu Mohammed al-Dscholani (42).
Vor allem in Frankreich ist nicht vergessen, dass der Killer-Islamist, der den Lehrer Samuel Paty (†47) vor vier Jahren auf offener Straße tötete und enthauptete, ein glühender HTS-Anhänger war – und er in engem Kontakt zu einem Dschihadisten im syrischen Idlib gestanden hatte.
Der Ableger von al-Qaida wurde einst von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestuft, die auch den Anführer auf die Terrorliste setzte. Die EU hat beide Einstufungen übernommen – und tut sich jetzt offenbar mit der Entscheidung schwer, ob es dabei bleibt.
Immerhin: Kallas ging nicht auf den Vorschlag einer Abgeordneten ein, allen Syrern, die jetzt in die Heimat reisen wollen, eine Rückkehrmöglichkeit in die EU zu garantieren. Stattdessen sagte die Estin klipp und klar: Ziel sei, dass die Flüchtlinge zurückkehren können und sich am Wiederaufbau beteiligen.
„Damit“, so Kallas, „auch die Last von Europa und den Nachbarländern genommen werden kann, was die Flüchtlingslage angeht“.