Tallinn (Estland) – Die Kriminalität in Estland ist gering, die Gefängnisse sind leer. Jetzt überlegt das baltische Land, seine freien Gefängnisplätze an andere Länder zu vermieten.
In den meisten Ländern Europas steigt die Kriminalität rasant. „Es gibt nur vier Länder in der EU, in denen die Kriminalität sehr langsam zunimmt“, sagte Estlands Justizministerin Liisa Pakosta (54) in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Sender ERR. „Glücklicherweise ist Estland derzeit eines davon.“
Das Land hat kürzlich Steuererhöhungen und Haushaltskürzungen eingeleitet, weil Geld in das Militär fließen soll, um eine mögliche Bedrohung Russlands abzuwehren. Die Einnahmen aus vermieteten Gefängniszellen käme Estland gelegen.
Für ihren Vorschlag gibt es bereits einen Präzedenzfall: 2015 schickte Norwegen zur Entlastung der eigenen Knäste 242 Häftlinge in ein Hochsicherheitsgefängnis nahe Veenhuizen (Niederlande). Das Gefängnis wurde von Norwegern geleitet, das Personal waren Niederländer. Die Zellenmiete kostete pro Jahr mehr als 22 Millionen Euro.
„Es bleibt die Frage, wie die Häftlinge Kontakt zu ihren Familien halten, ob das Abkommen ethisch vertretbar ist, und ich bin skeptisch aufgrund der zusätzlichen Kosten“, sagte John Todd von der Abteilung für Kriminologie und Rechtssoziologie der Universität Oslo damals.
Auch deutsche Gefängnisse sind voll
„In einigen Bundesländern, gerade die mit großen Metropolen, gibt es keine Kapazitäten mehr“, weiß René Müller (57), Chef des Bundes der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands (BSBD). Die Gefängnisse sind voll. „Bei einer Belegung von 80 Prozent der Haftplätze reden wir von einer 100-prozentigen Auslastung.“
Grund: Hafträume müssen auch mal repariert, eine spontane Trennung von Häftlingen muss ermöglicht werden können.
Einen Export von Häftlingen nach Estland hält er für falsch. „Das wäre ein reiner Verwahrungsvollzug. Die Resozialisierung von Strafgefangenen ist unsere zweite Hauptaufgabe, das könnten wir im Ausland nicht leisten. Zudem haben wir so wenig Personal, dass wir schon in Deutschland kaum unsere Aufgaben erfüllen könnten“, so der Gewerkschaftschef.
Aktuell gibt es Kooperationsverträge zwischen Bundesländern, sodass Häftlinge beispielsweise bei Überfüllung von Hamburg nach Schleswig-Holstein geschickt werden können.
Kein Bedarf für Abschiebehäftlinge
Wie sieht es bei Abschiebehäftlingen aus? Abschiebeangelegenheiten sind Ländersache und werden demnach sehr unterschiedlich gehandhabt. In ganz Deutschland gibt es 14 Abschiebeknäste bzw. ähnliche Einrichtungen.
„In Berlin haben wir nicht genutzte Abschiebeplätze und darum besteht kein Bedarf an rechtlich fragwürdigen Auslandsinhaftierungen“, sagt Bodo Pfalzgraf (61), Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft Berlin.
Fraglich sei zudem, ob sich eine Verlegung nach Estland überhaupt lohnen wurde. Die Abschiebehaft darf laut Gesetz nur bis zu sechs Monate angeordnet und maximal um zwölf Monate verlängert werden.