Eigentlich könnte Andrij Tabalow zufrieden auf die vergangenen Monate zurückblicken. Wie viele andere Milchverarbeiter aus der Ukraine hat sein Unternehmen Woloschkowe Pole zuletzt gute Geschäfte gemacht, vor allem dank der Exporte in die EU. Tabalow liefert zum Beispiel Kondensmilch oder Quarkriegel an Händler in Polen, den baltischen Staaten oder auch Deutschland. Insgesamt haben die ukrainischen Milchverarbeiter zwischen Januar und Mai Produkte im Wert von 25 Millionen Euro in die EU geliefert, mehr als im gesamten Jahr zuvor.
Freuen kann sich Tabalow über diesen Trend jedoch nicht. Denn schon ab diesem Freitag wird der Handel mit europäischen Partnern wieder deutlich komplizierter. Am 5. Juni hat die EU die sogenannte Verordnung über Autonome Handelsmaßnahmen auslaufen lassen. Hinter der kryptischen Bezeichnung verbirgt sich eine der bislang umfangreichsten europäischen Handelserleichterungen für die Ukraine. Wenige Monate nach Russlands Überfall auf das Land hatte die EU-Kommission fast alle Zölle und Importquoten für ukrainische Waren vorübergehend ausgesetzt. Das sollte die Wirtschaft des Landes stützen. Doch damit ist es nun vorerst vorbei. „Es ist klar, dass unsere Unternehmen weniger in die EU verkaufen werden“, sagt Tabalow.
Exporte in Milliardenhöhe könnten wegfallen
Betroffen ist längst nicht nur die Milchindustrie, sondern die gesamte Agrarbranche der Ukraine. Sie ist der wichtigste Devisenbringer des kriegsversehrten Landes. Rund 60 Prozent der ukrainischen Gesamtausfuhren machten im vergangenen Jahr Agrargüter wie Mais, Öl, Zucker, Fleisch oder Eier aus. Davon wiederum gingen rund 60 Prozent an Abnehmer in der EU. Waren im Wert von rund 13 Milliarden Euro. Nun aber sollen wieder die alten, strengeren Regeln des 2014 vereinbarten Assoziierungsabkommens mit der Ukraine gelten. Demnach dürfen ukrainische Landwirte nur begrenzte Mengen zollfrei in die EU einführen. Beim Mais etwa bleibt den ukrainischen Exporteuren bis Ende des Jahres eine zollfreie Quote von lediglich 0,65 Millionen Tonnen. Im vergangenen Jahr lieferte das Land fast 14 Millionen Tonnen in die EU. Lediglich für ukrainische Stahlerzeugnisse sollen die Erleichterungen noch bis Juni 2026 gelten.
Die ukrainische Regierung rechnet damit, dass Exporte in Höhe von etwa drei Milliarden Euro wegfallen werden. Das könnte das Land laut Regierungsprognosen rund einen Prozentpunkt der Wirtschaftsleistung kosten. Experten der EU-Kommission erwarten, dass die ukrainischen Einbußen beim Export etwa 1,5 Milliarden Euro betragen könnten.
Für die Ukraine kommt die EU-Entscheidung zu einer denkbar ungünstigen Zeit. Die russischen Bomben- und Raketenangriffe auf das
Energienetz des Landes, auf Industriebetriebe und logistische Zentren
bremsen die wirtschaftliche Erholung. Im laufenden Jahr soll
die Wirtschaftsleistung nur noch um zwei statt der ursprünglich erwarteten sechs Prozent zulegen. Die Inflation ist zuletzt auf 15 Prozent gestiegen. Außerdem fehlen dem Staat Steuereinnahmen. Das riesige
Haushaltsloch von rund 20 Prozent der Wirtschaftsleistung schließen die
Hilfen der EU und anderer westlicher Staaten. Doch die Kriegskosten sind
in diesem Jahr bereits deutlich höher als bisher veranschlagt. Laut dem
Vizechef des Finanzausschusses des ukrainischen Parlaments, Jaroslaw
Schelesnjak, liegen die Ausgaben fürs Militär in diesem Jahr um umgerechnet knapp sieben Milliarden über dem ursprünglichen Plan.