ZEIT ONLINE: Die Zeichnungen aus
dem Prozess gegen den US-Rapper Sean Combs prägen das Bild, das sich die Welt
gerade vom Geschehen im New Yorker Gerichtssaal macht. In ihrer Farbigkeit und Ausdrucksstärke wirken sie fast wie expressionistische Kunst. Wie finden Sie
die Arbeiten Ihrer US-Kollegin Jane Rosenberg?
Martin Burkhardt: Rosenberg
arbeitet mit Pastellkreiden auf dunklem Papier, das macht ihre Arbeiten so besonders.
Bedenkt man zusätzlich, dass die Gerichtszeichnung das Geschehen im Augenblick festhalten
und meist noch während des Prozesstags fertiggestellt werden muss, ist das
schon bemerkenswert. Auch wenn nicht alle Zeichnungen gleich gut sind und unter
Zeitdruck auch nicht gleich gut sein können.
ZEIT ONLINE: Jane Rosenberg wird in den sozialen Medien momentan vorgeworfen, Sean Combs zu nett
darzustellen. Eine Zeichnung zeigt etwa einen ergrauten Combs, der mit seinen
Händen ein Herz formt.
Burkhardt: Mit solchen Vorwürfen
muss man vorsichtig sein. Als Gerichtszeichner ist man dankbar für jede Geste,
die besonders ist. Denn nichts ist für sich genommen langweiliger und schwerer
zu zeichnen als eine Gruppe von Menschen, die auf Stühlen sitzt und redet.
Letztlich geht es darum, die Momente und Gesten festzuhalten, die im Gedächtnis
bleiben, weil sie die Bildroutine durchbrechen.
ZEIT ONLINE: Und wie hoch geht der
Puls, wenn man unter diesen Bedingungen zeichnen muss?
Burkhardt: Mit einer gewissen
Routine hält sich die Aufregung in Grenzen. Aber klar: Je mehr Zeichnungen man
anfertigen muss, desto größer ist der Stressfaktor. Dann wird es beispielsweise
schon schwer, eine Person, die in der Vorzeichnung nichts geworden ist, noch
einmal auszuradieren.
ZEIT ONLINE: Jane Rosenberg ist das
einmal passiert: 2015 zeichnete Sie Footballstar Tom Brady im Gerichtssaal.
Danach wurde in den Medien gewitzelt, Brady hätte auf den Zeichnungen
ausgesehen, als hätte er vor Prozessbeginn einen Autounfall gehabt.
Burkhardt: Wir alle machen mal
Fehler. Und manchmal fehlt die Zeit, sie zu korrigieren.
ZEIT ONLINE: In Deutschland sind Bild-
und Tonaufnahmen nach dem Gerichtsverfassungsgesetz untersagt. Ähnliche Regeln gibt
es in den USA, um die Persönlichkeitsrechte von Angeklagten und Zeugen zu
schützen. Warum sind Gerichtszeichner im Gerichtssaal dennoch erlaubt?
Burkhardt: Für Gerichtsverfahren
gilt der Öffentlichkeitsgrundsatz: Das Handeln des Gerichts soll für die
Allgemeinheit überprüfbar sein. Deshalb ist, sofern die Öffentlichkeit vom
Richter nicht unter bestimmten Bedingungen ausgeschlossen wurde, Publikum nicht
nur geduldet, sondern sogar erwünscht. Deshalb dürfen auch Journalisten über
Prozesse schreiben. Auch wir, die Gerichtszeichner, gehören zu den sogenannten
Prozessbeobachtern. Davon abgesehen: Bild- und Filmaufnahmen im Gerichtssaal
sind nicht per se ausgeschlossen, meist darf vor
dem Prozess im Saal gefilmt werden, bis die Richter ihren Platz einnehmen und
die Verhandlung eröffnen.
ZEIT ONLINE: Aber ein ganz normaler
Prozessbeobachter sind sie als Gerichtszeichner auch nicht. Gerichtszeichnungen
gibt es bereits seit dem 19. Jahrhundert. Damals sollten diese Zeichnungen die
Sehnsucht der neuen Boulevardmedien nach möglichst blutigen
Sensationsgeschichten bebildern.
Burkhardt: Natürlich bedienen wir
ein öffentliches Interesse. Aber um blutrünstige Details geht es heute nicht
mehr, sondern um die möglichst unmittelbare Darstellung des Geschehens vor
Gericht.
ZEIT ONLINE: Wie viel
künstlerische Verfremdung ist gestattet?
Burkhardt: Da gibt es kein Regelwerk. Jeder Künstler arbeitet mit den je eigenen künstlerischen Mitteln: Stift, Papier, Wasserfarben, Pastellkreide …
ZEIT ONLINE: Seit wann sind Sie
eigentlich mit Ihrem Block im Gerichtssaal mit dabei?
Burkhardt: Ich bin jetzt seit 20
Jahren als Gerichtszeichner tätig. Meine Auftraggeber sind in der Regel
Fernsehsender, vor allem ARD und ZDF, manchmal auch
Zeitungen und Magazine. Momentan zeichne ich bei zwei bis drei Prozessen
im Jahr. Es gab aber auch schon Zeiten, da gab es wesentlich mehr Aufträge,
weil es wesentlich mehr große Prozesse von öffentlichem Interesse gab.