Plötzlich ertönt tatsächlich seine Stimme durch den bis auf
den letzten Platz gefüllten Saal, laut und vernehmlich, alt und edelknorrig, so
typisch betont und gedehnt. Er ist es wirklich. Thomas Mann am Freitagabend
im Lübecker Theater in der Beckergrube, was angemessenerweise leichten
feierlichen Schauder auslöst.
Natürlich ist er es dann doch nicht höchstselbst,
und auch keine KI improvisiert etwa eine würdige Dankrede des 150-jährigen
Jubilars. Das Publikum lauscht vielmehr ein paar Minuten seiner Stimme aus
einer Aufnahme von 1954 für den Süddeutschen Rundfunk, in der er seine
Lieblingsmusik präsentierte. Dennoch hätte dem Zauberer diese kleine
Geisterbeschwörung in seiner Heimatstadt an seinem Geburtstag bestimmt verdammt gut
gefallen. Und wir hören danach als Ständchen das Philharmonische Orchester der
Stadt live 2025 mit ein paar Lebensmusiken des Schriftstellers, Wagners
-Vorspiel, Debussys , der -Ouvertüre
von Beethoven und der zu selten aufgeführten von César Franck.
Fülle des Wohllauts, wo doch der Jubilar eben noch 1954 über die Qualität des
Orchesters in seiner Jugend gelästert hatte.
Thomas Mann Das gilt an diesem 6. Juni 2025 in
Lübeck, aber auch sonst landauf, landab in Deutschland zum 150. Jahrestags seiner Geburt,
und zwar mit aller Macht, zwischen Verehrung und Verachtung, so wie es sich für
einen Spitzen-Klassiker gehört. Es gibt für alle Fans die neue Mega-Plattform
im Internet, auf der alles Wissen, Archive und Veranstaltungen zum Meister
international gebündelt werden. Es gibt kluge
Essays wie den von Martin Mittelmeier über seine Zeit im kalifornischen Exil
(, DuMont), einen originellen Roman von
Matthias Lohre, der Thomas Mann kunstvoll selbst in eine Romanfigur verwandelt (, Piper). Es gibt die neue Biografie von Tilman
Lahme, die den Schriftsteller zum Dirty Tommy macht, der immer wieder autobiografische Legenden über sich verbreitete und seine Homosexualität noch
stärker verschleiert und ins Werk transformiert hat als ohnehin schon bekannt. Mely Kiyak hat die berühmten BBC-Ansprachen des Emigranten Mann während des
Zweiten Weltkriegs neu herausgegeben (, S. Fischer). Schließlich erfährt er jetzt auch noch das ultimative moderne
Klassikerschicksal, limitiert für 8,99 Euro: Nach Luther, Goethe und Schiller
wird auch ihm die Ehre einer Playmobil-Figur zuteil – die leider derart
missglückt ist, dass man ihn eher für einen gealterten Tropenforscher am Stock
hält als für den Schöpfer der die er in der Hand hält. In
Lübeck kann man Thomas Mann übrigens im Traditonscaféhaus Niederegger auch als
Marzipanskulptur bewundern.
Seine Geburtsstadt konnte für ihren neben Willy Brandt
größten Sohn auch ansonsten am Jubiläumstag einiges aufbieten, nicht nur das
abendliche Ständchen. Das wurde unterbrochen von Lieblingsenkel Frido, den der
Schriftsteller im Roman in der Figur des kleinen Echo
auftreten ließ: Der 84-Jährige trat jetzt im Theater anstelle des Großvaters
ans Rednerpult, weißes Haar, Lesebrille, angemessen leicht zerstreut, aber
frisch und präsent, und las angesichts der Weltlage ermutigende Passagen über
Demokratie und Humanität aus seinem neuen Buch vor (, Königshausen & Neumann). Eine perfekte Thomas-Mann-Rede
ohne namentliche Erwähnung, wie er selbst bekannte.
Überhaupt die Geburtstagsreden: Am Nachmittag hatte das deutsche Staatsoberhaupt Frank-Walter Steinmeier dem Literaturnobelpreisträger Thomas Mann bei der eigentlichen Feierstunde
in St. Aegidien die Ehre erwiesen – auch das hätte dem Jubilar wohl sehr gefallen,
wenngleich das ja bei dieser überlebensgroßen deutschen Künstlerfigur von
Weltrang eine Selbstverständlichkeit ist. In der ehrwürdigen Kirche überraschte der Bundespräsident alle
Steinmeier-Verächter. Denn es gelang ihm – anders als zuletzt gewohnt – eine große Rede auf den Schriftsteller.
Steinmeier bot einen klugen
Durchgang durch Manns Leben, Werk und Familie (eine Konstellation, die selbst
„ein deutscher Familienroman“ sei) und vermied die vorschnelle,
politikerredentypische Pseudo-Aktualisierung. „Er ist das Beste, was Sie lesen
können“, so schwärmte stattdessen der Bundespräsident und erinnert an die
„höhere Heiterkeit“ des Autors und dessen „Blick tiefen Verstehens“. Er sprach
über die und den , aber auch von der megalomanen -Tetralogie, seinem Projekt der „Humanisierung von Religion und
Politik“ dort, aber auch von Joseph, der zum verantwortungsbewussten Spitzenpolitiker
für den Pharao wird. Denn unpolitisch kann und darf es bei Thomas Mann nicht
zugehen, der erst nach seinen berüchtigten zum Republikaner
wurde: „Er klärt auf“, bringt Steinmeier Manns politische Reden und die
BBC-Ansprachen auf den Punkt und erinnert in den Zeiten des schwieriger
gewordenen transatlantischen Austauschs an das „weiße Haus in Kalifornien“,
Manns Domizil in Pacific Palisades, das die Bundesrepublik vor einigen Jahren
erworben und zu einem kulturellen Zentrum für Stipendiaten gemacht hat.
Steinmeiers zurückhaltendes Mahnen dort vorn unter der Empore, hinter sich der
große Plakataufsteller mit dem uns vieläugig beobachtenden Nobelpreisträger,
hallt diesmal nach, weil es nicht plakativ, sondern in dieser Feierstunde nachdenklich
daherkommt: Die Toleranz sei momentan „wirklich im Kern bedroht“. Und es stelle
sich dennoch die Frage, gerade weil Thomas Mann in seinen letzten Exiljahren
auch Amerika immer kritischer beobachtet habe: „Ob er sich das heutige Amerika
hätte vorstellen können?“ In der Kirchbank ist unter den Zuhörern auch der
94-jährige Armin Müller-Stahl mit einem schönen weißen, fast durchsichtigen
Antlitz; er hat selbst lange in Hollywood gedreht und den Thomas Mann in Heinrich Breloers
berühmter TV-Verfilmung 2001 verkörpert.
Dichtes Gedränge gab es danach ein paar Hundert Meter weiter
im St.-Annen-Museum: Dort wurde die Jubiläumsausstellung unter dem Titel eröffnet, die die Direktorin des Buddenbrook-Hauses Caren Heuer und
Barbara Eschenburg kuratiert haben – und das in einem Ausweichquartier. Denn
die traditionelle Mann-Gedenkstätte in der Mengstraße wird noch für einige
Jahre nicht zugänglich sein, um den Umbau gab es diverse Querelen. In einer Art
wilden, überwältigenden Collage aus Dokumenten und zahllosen Fotografien an den
Stellwänden konzentriert sie sich auf das Ringen um die Demokratie und zeigt
die politische Welt von Manns Leben zwischen 1875 und 1955, „Meine Zeit“, wie
er die Epoche in einer Rede 1950 in Chicago genannt hat. Thomas Mann
mit elegantem Anzug, Schnurrbart, Zigarette und seinem herrlich nachdenklich
inszenierten Blick: Auch hier im Gedränge ist der Jubilar plötzlich wieder da,
weil wir leider unsere eigene Zeit mit ihren Dramen und Katastrophen an den
Wänden gespiegelt sehen. Hoffen wir auf ein nächstes, in dieser Hinsicht
anderes Jubiläum.