Er ist immer noch da draußen

Der ist langlebig, und deshalb taugt er als
Archiv. Chronikfans werden in der neuen Berliner Folge
(RBB-Redaktion: Verena Veihl) die Erstbespielung des vor vier Jahren eröffneten
Humboldt Forums registrieren. Die Stadtschlossattrappe, die vorangetrieben
wurde von
einem Förderverein mit Verbindungen in rechte Milieus und Geldern von solchen
Spendern
, ist Ausdruck einer restaurativen Geschichtspolitik nach der
Einheit 1990. Für den qualifiziert sich der Bau mit seinem
Restaurant auf dem Dach als Ort
des Verbrechens, denn die Täter in der neuen Folge sind Sniper.

Es geht gut
los (Drehbuch: Thomas André Szabó). Ein Mann telefoniert im Gehen mit
einer Ulrike und ist genervt, man spürt in den kurzen Dialogen Vertrautheit und
Dissens. Dann telefoniert derselbe Mann mit einer Lisa und strahlt – ein
einfacher, lebensweltlicher Trick mit zwei so verschiedenen Reaktionen auf
Anruferinnen, dass man wissen will, was dahintersteckt – Ehefrau und Geliebte? Vorgesetzte
und Freundin?

Kurz darauf, mitten im zweiten Telefonat, ist der Mann dann
tot – erschossen aus großer Ferne und auf offener Straße, am Bahnhof
Friedrichstraße mitten in Berlin. Der Mann heißt Jürgen Weghorst (Philipp
Lind), war Politiker und Lobbyist. Und während Ulrike Menzel (Tara Linke) bald
als Chefin vom Lebensmittelwirtschaftsverband in Erscheinung tritt, wird Lisa, die Frau vom zweiten
Telefonat, nicht mehr auftauchen. Es ist nicht die einzige Spur, der dieser
ARD-Sonntagabendkrimi nicht folgt.

Der zu Beginn aufgerufene Besuch des britischen Königs Charles
III. in der deutschen Hauptstadt, der eine ganz besondere Sicherheitslage
anzeigen soll, schwindet im Laufe der atemlosen Ermittlungen des Films. Mit
dramatischen Inserts presst die Polizeiarbeit in die Stunden
eines Tages. Aber auch hier verdünnisiert sich die Spannung allmählich, die von den
Einblendungen von Zeit und Ort ausgehen soll.

Interessant
ist am Anfang noch, welche der, sagen wir, nicht ganz sauberen
Handlungen von Weghorst ein Motiv für die Mörder abgegeben haben könnte. Der
Lobbyismus, auf den Karow (Mark Waschke) und Bonard (Corinna Harfouch) zuerst
setzen, erweist sich als Holzweg. Das kommt heraus durch einen Assistenten vom
Lebensmittelwirtschaftsverband, den Lamin Leroy Gibba spielt, der das für die
Betrachterin immer auch etwas peinliche Gefühl von Unbeholfenheit sehr gut
darstellen kann (wie er auch in seiner eigenen ARD-Serie beweist). Aus einer missverstandenen Frage folgt der Hinweis
auf Afghanistan.

Dort hatte Weghorst in den chaotischen Tagen vor der
Machtübernahme der Taliban im Spätsommer 2021 gemeinsam mit drei anderen,
darunter Ulrike, ein Bundeswehrflugzeug zum Start bewegt, das so keine Ortskräfte und andere
deutsche Helfer ausfliegen konnte. Das Schicksal der allein gelassenen
Hilfskräfte aus Afghanistan verkörpert im Soraya Barakzay (Pegah
Ferydoni), die damals ihre beiden Kinder verlor.

Diesen Schmerz will nun ein Bundeswehrsoldat namens Stephan
Unge (spät und erst nur
mit Sturmmaske zu sehen: Robin Sondermann) rächen, der in Soraya verliebt war.
Für den Feldzug hatte er noch einen Kollegen gewinnen können, der nur noch
einen Arm hat und deshalb bei den Schüssen aufs Dachrestaurant der Stadtschlossattrappe nicht so genau zielt.

Lobenswert ist, wie es Drehbuch und Regie (Mark Monheim)
gelingt, das viele Personal in den Film zu integrieren, das durch Weghorsts weit gestreute Tätigkeiten befragt werden muss. Das Sniper-Ding lässt den Film
zusätzlich metropolös aussehen (Kamera: Jan-Marcello Kahl), weil ja dauernd
über Berlin geguckt werden muss, der Dom, der Fernsehturm, such dir was aus.

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