Es war die Krebsdiagnose seines Vaters, die Maxim Melnik vor dem Krieg in der Ukraine rettete. Ende Juni sei er noch an der Front gewesen, erzählt Melnik, 35 Jahre alt, kurz rasierte Seiten, durchdringende blaue Augen. Jetzt sitzt er in der neunten Etage des Jobcenters Köln-Chorweiler, mitten im sozialen Brennpunkt, umgeben von brutalistischen Wohnblöcken. Durch die Jalousien geht der Blick auf Autobahnzubringer und Kühltürme. Melnik gegenüber sitzt Arbeitsvermittlerin Julia Lorenz. Sie berät ihn auf Russisch und übersetzt.
Melniks Familie floh im April 2022 ohne ihn nach Deutschland. Als wehrfähiger Mann musste er in der Ukraine bleiben. Ein Jahr und vier Monate habe er in Cherson und Sumy gekämpft, unter anderem als Drohnenkrieger. Dann sei bei seinem Vater Krebs diagnostiziert worden. Inzwischen habe er Metastasen im ganzen Körper und mache eine Chemotherapie. Melniks Vorgesetzter hätte ihm deshalb einen Sonderurlaub genehmigt: Er durfte zu seiner Familie nach Köln reisen. An eine Rückkehr denke er nicht. Deserteuren drohen in der Ukraine bis zu fünf Jahre Haft. Melnik fürchtet, ukrainische Dienste könnten ihn auch in Deutschland aufspüren und möchte deshalb anonym bleiben.
Regierung will Ukrainern das Bürgergeld streichen
Noch sind Menschen wie Maxim Melnik hier in einem gut funktionierenden System aufgehoben: Sie bekommen Bürgergeld und werden durch den sogenannten Jobturbo effektiv in Arbeit vermittelt. Damit soll jetzt Schluss sein: Mitte November hat die Bundesregierung ein Gesetz auf den Weg gebracht, das für Tausende Ukrainer das Bürgergeld streichen und den Jobturbo aushebeln würde. Experten warnen in Gesprächen mit der ZEIT: Die Regierung könnte damit ein gut laufendes System beenden und die Integration vieler Ukrainer um Jahre zurückwerfen.
Doch warum etwas ändern, das gut funktioniert? Eingeführt hatte das System die Ampelregierung im Oktober 2023, um Geflüchtete schneller in Arbeit zu bringen und den Fachkräftemangel zu lindern. Bei der jetzigen Reform geht es aber offenbar weniger darum, was sich in der Praxis bewährt, sondern was sich im Wahlkampf als populär erwiesen hat: Mehr Strenge beim Bürgergeld und eine restriktive Migrationspolitik waren zentrale Wahlkampfversprechen der Union. Ausgerechnet SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas muss diese Versprechen jetzt umsetzen. „Mir gefällt es nicht“, sagte Bas bei einer Regierungsbefragung. „Aber wir setzen das jetzt um.“ Schließlich sei die Reform auch im Koalitionsvertrag vereinbart worden.
Ukrainer sollen zurück ins Asylsystem
Stimmen Bundestag und Bundesrat dem Gesetz zu, werden Ukrainer, die nach dem 31. März 2025 eingereist sind, nicht mehr wie Arbeitslose, sondern wie Asylbewerber behandelt. Von den rund 670.000 Ukrainern im Bürgergeld wären derzeit schätzungsweise 56.000 von dieser Änderung betroffen. Zusätzlich rechnet die Bundesagentur für Arbeit mit 7.000 weiteren Ukrainern pro Monat.
Tritt das Gesetz wie geplant im Frühjahr in Kraft, gibt es für Alleinstehende statt 563 Euro Bürgergeld monatlich nur noch 441 Euro Asylbewerberleistungen. Durch die Gleichstellung mit Asylbewerbern würden arbeitslose Ukrainer nicht mehr in Jobcentern, sondern von den Sozialämtern der Kommunen betreut werden. Dadurch würde auch die intensive Betreuung im Jobturbo wegfallen. Statt auf Arbeitsvermittlung durch Integrationsfachkräfte wie Julia Lorenz will die Regierung auf Eigeninitiative setzen: Ukrainer werden dazu verpflichtet, sich „unverzüglich um eine Erwerbstätigkeit zu bemühen“, wie es im Gesetzentwurf heißt. Dabei sollen zukünftig auch einfache Hilfstätigkeiten als zumutbar gelten, Integrationsmaßnahmen dagegen auf ein Minimum zurückgeschraubt werden. Reicht die Eigeninitiative bei der Jobsuche nicht aus, sollen Sozialämter arbeitslose Ukrainer auch zu gemeinnütziger Arbeit verpflichten können. Die Logik des Jobturbo wird dadurch ins Gegenteil verkehrt.
Was den Jobturbo so erfolgreich macht
In ihrem Büro in Köln-Chorweiler betreut Julia Lorenz 100 Arbeitslose aus der Ukraine, die meisten davon Frauen, viele alleinerziehend. Für Kinder steht immer ein Teller Kekse auf dem Tisch. An der Pinnwand hinter Lorenz‘ Bürostuhl hängen Kärtchen mit Motivationssprüchen. „Zu weit existiert nur in deinem Kopf“, steht darauf, oder: „Hör niemals auf, neu anzufangen.“
Julia Lorenz, 45 Jahre alt, schulterlanges braunes Haar, stützt sich bei ihrer Arbeit auf persönliche Erfahrungen. 2003 emigrierte sie als Spätaussiedlerin aus Russland. Während sie Deutsch lernte und ihren Abschluss in russischer Literatur anerkennen ließ, arbeitete sie als Kellnerin. Später studierte sie Sozialpädagogik und begann 2009 im Jobcenter zu arbeiten. Die Arbeit in der Gastronomie hätte ihre Integration stark gefördert, erzählt Lorenz: Erst durch den Kundenkontakt habe sie richtig Deutsch gelernt. Schon bevor die Ampelregierung den Jobturbo einführte, habe sie ihre Klienten deshalb nach zwei Prinzipien betreut: Deutsch lernt man am besten in der Praxis. Und: Früh in Arbeit zu kommen, fördert die Integration – auch wenn es erstmal nur ein Nebenjob ist. Durch den Jobturbo habe sie sich in ihrem Kurs bestätigt gefühlt. Denn das Programm hat genau das in der Breite etabliert, was auch für Lorenz gut funktionierte.
Eine Studie des Immigration Policy Labs führt den Erfolg des Jobturbo auf zwei Aspekte zurück. Zum einen die intensive Betreuung durch die Jobcenter: Integrationsfachkräfte wie Julia Lorenz gehen proaktiv auf ihre Klienten zu und laden sie häufiger zu Beratungsterminen ein, im Durchschnitt alle sechs Wochen. Zum anderen die sofortige Jobvermittlung: Lorenz versucht, ihre Klienten direkt nach ihren anfänglichen Integrationskursen in Arbeit zu bringen. Viele sprechen da gerade erst gebrochenes Deutsch und haben ihre Qualifikationen noch nicht anerkennen lassen. Trotzdem versucht Lorenz, ihre Klienten schon zu diesem Zeitpunkt in Minijobs oder Teilzeittätigkeiten zu vermitteln. Dadurch wird der weitere Integrationsprozess aber nicht unterbrochen. Im Gegenteil: Parallel zur Arbeit besuchen Lorenz‘ Klienten weitere Deutschkurse, lassen ihre Abschlüsse anerkennen und qualifizieren sich schrittweise für den Arbeitsmarkt.
Die Forscher des Immigration Policy Lab kommen zu dem Schluss, dass der Jobturbo damit international eines der erfolgreichsten Integrationsprogramme für Geflüchtete ist. Bis August dieses Jahres haben schätzungsweise 102.000 Geflüchtete durch das Programm zusätzlich einen Job gefunden, 58.000 davon aus der Ukraine.
Tetiana Didilovska, 39 Jahre alt, alleinerziehend, ist für Julia Lorenz ein typischer Fall. Wenige Tage nach Beginn der russischen Invasion floh sie mit ihren drei Kindern aus der westukrainischen Stadt Ternopil. „Vor Kurzem gab es dort wieder schwere Angriffe“, erzählt Didilovska. 38 Menschen kamen Mitte November bei Luftangriffen auf zwei Wohnhäuser ums Leben. Didilovska spricht langsam und deutlich, manchmal fehlen ihr die Worte, dann muss Lorenz einspringen.
Acht Jahre arbeitete Didilovska in ihrer Heimat als Buchhalterin. Den Abschluss in Betriebswirtschaftslehre konnte sie bereits anerkennen lassen. Ihren Integrationskurs hat sie aber nur mit einem B1-Niveau in Deutsch abgeschlossen – um als Buchhalterin zu arbeiten, braucht sie mindestens B2. Deshalb soll ihr Julia Lorenz jetzt einen Wiederholungskurs bewilligen.
„Wir prüfen in jedem Einzelfall, ob ein Sprachkurs zielführend ist“, erklärt Lorenz. Sie wolle vermeiden, dass ihre Kunden Wiederholungskurse beantragen, nur um nicht arbeiten zu müssen. Im Fall von Didilovska seien die Voraussetzungen aber erfüllt: Seit einem Jahr arbeitet sie als Minijobberin in einem Steuerbüro und assistiert in der Buchhaltung. Ihre Arbeitgeberin habe Didilovska auch schon eine Beschäftigung in Teilzeit in Aussicht gestellt. Dazu müsse sie aber noch lernen, mit einer Steuersoftware umzugehen, erklärt Lorenz. Auch dafür stellt sie Didilovska eine Weiterbildung in Aussicht. „Unser Ziel ist es, unsere Klienten schrittweise in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bringen, die möglichst genau ihren Qualifikationen entspricht.“ Sie mache sich keine Sorgen, dass sich die Integrationsmaßnahmen bei Didilovksa innerhalb weniger Monate auszahlen.
Von der Debatte um das Bürgergeld hat Tetiana Didilovksa über Telegram erfahren. Dort tauscht sich die ukrainische Community in Chatgruppen über Neuigkeiten aus. „Ich habe gehört, dass Ukrainer zurück ins Asylsystem sollen“, sagt Didilovska. Sie verstehe aber nicht, was genau das für sie bedeute. „Dürfen wir dann nicht mehr arbeiten und lernen? Oder bekommen wir nur weniger Geld?“ Dass das Bürgergeld für Ukrainer ein Anreiz sei, nach Deutschland zu flüchten, bezweifelt Didilovska. Sie glaube auch nicht, dass weniger Ukrainer kommen, nur weil sie hier weniger Geld kriegen. „Das Problem ist der Krieg“, sagt sie.
Eine Reform, die nichts bringt
Entgegen der ursprünglichenAbsichtt, beim Bürgergeld zu sparen, rechnet SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas in ihrem Gesetzentwurf sogar mit einem negativen Einspareffekt: Zwar könne der Bund durch die Reform im kommenden Jahr 680 Millionen Euro beim Bürgergeld sparen. Weil die Verantwortung für die betroffenen Ukrainer auf die Sozialämter übergeht, werden die Kosten aber nur auf die Kommunen verschoben. Diese hätten im kommenden Jahr mit Mehrausgaben von 862 Millionen Euro zu rechnen, sparten aber nur 50 Millionen Euro beim Bürgergeld.
Auch für Moritz Marbach geht die Rechnung nicht auf. Er forscht am University College London und ist Co-Autor der Studie des Immigration Policy Labs. „Durch den Wegfall der intensiven und proaktiven Betreuung durch die Jobcenter verlangsamt sich die Arbeitsmarktintegration der Betroffenen“, vermutet Marbach. Viele Ukrainer könnten dann länger auf Sozialleistungen angewiesen sein und im Niedriglohnsektor hängen bleiben. Dadurch nehme der Staat langfristig auch weniger Einkommenssteuer ein. „Schon aus rein fiskalischer Sicht ist das keine gute Idee“, sagt Marbach.
Maxim Melnik will gar nicht erst von den Wirrungen der deutschen Sozialbürokratie abhängig bleiben. Er hat bereits das getan, was sich die Bundesregierung von Ukrainern wünscht: Noch vor seiner Ankunft in Deutschland hatte er sich einen Minijob als Lieferfahrer in einer Apotheke besorgt. Ab Dezember möchte er dort in Teilzeit arbeiten. Statt 42 Stunden will er dann 100 Stunden im Monat Medikamente ausliefern. Für einen Integrationskurs habe er keine Zeit, übersetzt Julia Lorenz. Er müsse für seine Kinder und seinen krebskranken Vater sorgen. Die Arbeitsvermittlerin hat dafür Verständnis, aber auch Bedenken. „Wenn er kein Deutsch lernt, wird er nur Hilfsarbeiten annehmen und seine Ausbildung zum Elektroinstallateur nicht anerkennen lassen können“, sagt sie. Langfristig werde er so auch weniger verdienen. Wenn Maxim Melnik seine Familie durchbringen will, wird er sein Gehalt also vermutlich mit Bürgergeld aufstocken müssen.
