Eine halbe Million Menschen steht vor dem Hungertod. Punkt.

Hannah Arendt war nicht nur eine der einflussreichsten Theoretikerinnen des 20. Jahrhunderts, sie war ebenso eine der unabhängigsten. Ihr bekanntes Credo vom „Denken ohne Geländer“ bedeutete stets auch: Denken auf eigene Rechnung. Dementsprechend ordnete sie sich nie einfach einem politischen Lager zu und hegte eine Skepsis gegenüber aktivistischen Komitees. Doch einmal, im Jahr 1958, machte sie eine Ausnahme. Zusammen mit 16 anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bildete Arendt eine Gruppe namens und veröffentlichte eine Studie mit dem Titel „Das Palästinensische Flüchtlingsproblem – Ein neuer Ansatz und ein Plan für eine Lösung“.

Der fast 70 Jahre alte Text, der von Arendt–Biograf Thomas Meyer unlängst wiederentdeckt wurde und 2024 erstmals auf Deutsch erschien, ist zunächst deshalb so bemerkenswert, weil Arendt und ihre Mitstreiter bereits ein zentrales Problem diagnostizierten, das bis heute die Debatten um den Nahost-Konflikt prägt. Das Verhältnis von Israel und den Palästinensern lässt sich kaum noch konstruktiv diskutieren, da es von unzähligen Schichten aus gegenseitigen Vorwürfen, geschichtlich gewachsenen Ansprüchen sowie diffizilen Definitionsfragen überlagert wird.

So kommt es uns heute eigentümlich vertraut vor, wenn Arendt und Co die Debattenlage im Jahr 1958 etwa mit folgendem Satz zusammenfassen: „Fast routinemäßig wurde erklärt, dass das Problem zu heikel sei oder es sich dabei um ein ‚zu heißes Eisen‘ handele.“ Aus diesem Grund versuchte das in seinem Text jegliche Fragen von historischer Schuld und Verantwortung auszuklammern, um alles einem Ziel unterzuordnen: den damals rund einer Million palästinensischen Flüchtlingen „eine Rückkehr in ein normales Leben zu ermöglichen“. Für Arendt und ihre Kollegen bedeutete dies zunächst, die Fakten über die Lage ebendieser Flüchtlinge aufzulisten.

Und diese Fakten sehen im Jahr 2025 so aus: Seit dem Beginn der israelischen Militäroffensive Ende 2023 sind im Gazastreifen laut Angaben der von der Hamas kontrollierten Behörden über 52.000 Menschen getötet worden, davon sind laut UN schätzungsweise 70 Prozent Kinder und Frauen. Angesichts der unübersichtlichen Lage und vieler zerstörter Krankenhäuser könnten die Opferzahlen indes noch viel höher liegen. Wie eine gerade erschienene Studie der renommierten medizinischen Fachzeitschrift konstatierte, ist nicht auszuschließen, dass die tatsächliche Opferzahl sogar doppelt so hoch ist. Damit nicht genug: In den letzten Tagen spitzte sich die katastrophale Situation der Einwohner des Küstenstreifens noch einmal zu und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigte jüngst sogar noch eine Ausweitung des Krieges an.

Man kann die Schuld nicht vollends ausklammern

Laut UNOSAT, dem Satellitenbeobachtungsprogramm der Vereinten Nationen, waren Ende 2024 über 170.000 Gebäude im Gazastreifen zerstört, das sind rund 70 Prozent aller Bauwerke. Dementsprechend desaströs ist auch die Versorgungslage in einem der am dichtesten besiedelten Flecken der Erde. Weil die israelische Armee seit über zehn Wochen die Lieferung von Hilfsgütern blockiert, leiden laut Experten rund eine Million Palästinenser an Unternäherung, der Hälfte davon droht absehbar der Hungertod. Auch Offiziere der israelischen Armee haben gegenüber der kürzlich zugegeben, dass in Gaza eine Hungerkatastrophe unvermeidlich ist, sollten nicht bald große Mengen Lebensmittel ins Land gelassen werden. Solang dies nicht der Fall ist, werden öffentliche Essensausgaben weiter von Tumulten begleitet, bei denen Kinder sich fast gewaltsam eine Schüssel Reis erkämpfen müssen.   

Nun ist es nicht so, dass diese Katastrophe medial und politisch verschwiegen würde. Viele Medien veröffentlichen eindringliche Berichte über die Lage in Gaza. Ebenso haben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Friedrich Merz sowie Außenminister Johann Wadephul zuletzt ihre Besorgnis über die Hungersnot gegenüber Israel zum Ausdruck gebracht. Und dennoch: Gemessen an dem Leid der rund zwei Millionen Bewohner von Gaza müsste der Aufschrei hierzulande eigentlich größer sein.

Dass dem nicht so ist, hat zunächst damit zu tun, dass das Ausklammern von Schuld- und Verantwortungsfragen eben nicht so einfach ist, wie Arendt und ihre Mitstreiter es sich damals vorstellten. Erst recht nicht nach den bestialischen Hamas-Massakern am 07. Oktober 2023, bei denen rund 1.300 Israelis ums Leben kamen. Seit jenem Tag also, bei dem so viele Juden ermordet wurden, wie seit dem Holocaust nicht mehr.

Dementsprechend wird in der Debatte um den Gazakrieg oft auf das Recht der Israelis zur Selbstverteidigung verwiesen. Ebenso auf den Umstand, dass die in ihrem ideologischen Kern zutiefst antisemitische Hamas immer wieder Zivilisten als Schutzschild benutzt, ihre Raketen mitunter von Schulen und Spielplätzen abfeuert, innerhalb eines riesigen Tunnelsystems agiert, die Verteilung von Lebensmitteln als Machtinstrument einsetzt und immer noch über 20 lebende Geiseln versteckt hält.

Das alles ist richtig und kann tatsächlich nicht aus der Debatte ausgeklammert werden. Ebenfalls stimmt, dass sich Kritik am israelischen Vorgehen nicht selten mit einer fatalen Dämonisierung des Staates Israels oder gar antisemitischen Talking Points vermischt. Doch angesichts der dramatischen Lage in Gaza müsste die deutsche Politik trotzdem das tun, was jüngst auch Tom Segev, einer der weltweit renommiertesten Historiker Israels, von ihr verlangte: größtmöglichen Druck auf die israelische Regierung ausüben.

Moralische Pflicht zur Kritik

Zwei Gründe sind dafür entscheidend. Der erste ist moralischer Natur. Man muss es so klar sagen: Dass im Gazastreifen Zehntausende Menschen zu verhungern drohen, ist gleichermaßen eine humanitäre Katastrophe wie ein politischer Skandal. Schließlich ist diese Situation von der weitestgehend rechtsextremen Regierung Netanjahus herbeigeführt. Kein Verweis auf ein an sich legitimes Selbstverteidigungsrecht kann das Aushungern einer zwei Millionen Menschen großen Bevölkerung rechtfertigen, die zudem fast zur Hälfte aus Kindern besteht. Gerade all jene, die sich dem Staat Israel und dessen Demokratie verbunden fühlen, müssten das dieser Tage umso deutlicher betonen. Geht es hier doch schließlich um eine Kritik an der Regierung Netanjahu, keineswegs um eine Delegitimierung des Staates Israel. Dass beides in der Nahost-Debatte oft vermischt wird, ist zweifellos ein Problem. Aber gerade deshalb muss man auf der Möglichkeit dieser Unterscheidung bestehen.

Hinzu kommt noch ein zweiter, nämlich strategischer Grund. Es spricht sehr viel dafür, dass solch eine Art der Kriegsführung langfristig einen wirklichen Frieden nahezu verunmöglicht und damit auch konträr zu den israelischen Sicherheitsinteressen steht. Gerade Spitzenkräfte aus dem israelischen Sicherheitsapparat haben immer wieder darauf hingewiesen. In dem 2012 erschienenen Dokumentarfilm kommen etwa sechs ehemalige Chefs des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Beth zu Wort, die fast unisono konstatieren, dass eine Lösung des Konflikts nicht militärisch herbeigeführt werden kann. Im Gegenteil: Am Ende spiele dies in den palästinensischen Gebieten nur radikalen Kräften in die Hand und unterhöhle zudem auch die israelische Demokratie. Einige von ihnen, etwa Ami Ajalon, üben diese Kritik heute umso nachdrücklicher und richten sie auch explizit an Benjamin Netanjahu.

Hannah Arendt und ihre Mitstreiter schlugen 1958 für die langfristige Lösung des Palästina-Konflikts die Einrichtung einer Rückführungs- und Umsiedlungsbehörde vor, die es den nach der israelischen Staatsgründung vertriebenen Palästinensern ermöglichen sollte, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Im Gegenzug sollte der Staat Israel Sicherheitsgarantien erhalten. De facto lief der Vorschlag also auf einen binationalen Staat Israel hinaus.

Derlei klang schon damals in vielen Ohren unrealistisch, heute erscheint es geradezu utopisch. Umso dringlicher ist dieser Tage aber das, was Arendt und ihre Kollegen mit ihrem Plan konkret erreichen wollten, nämlich die Verbesserung der Lage der Palästinenser. Und das hieße zunächst ganz akut: die Abwendung einer immensen Hungerkatastrophe im Gazastreifen. Und womöglich kann insbesondere die Bundesrepublik ihren Beitrag dazu leisten. Schließlich ist es für Deutschland ein großes und historisch keineswegs selbstverständliches Glück, heute eine enge Freundschaft mit Israel zu pflegen. Doch diese schließt Kritik eben nicht aus. Im Gegenteil: Zu versuchen, den Freund von einem großen Fehler abzuhalten, kann sogar eine moralische Pflicht sein.

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