539 Drohnen, 11 Raketen und Marschflugkörper, 478 Ziele: In dieser Sommernacht hat die ukrainische Hauptstadt Kyjiw eine noch nie da gewesene Welle russischer Angriffe gespürt. Stundenlang wurde die Metropole beschossen, Tausende Menschen harrten dabei in den U-Bahn-Stationen unter der Erde aus. Nicht nur der Flughafen Schuljany, ein wichtiger Standort für das Patriot-Luftverteidigungssystem, wurde ins Visier genommen. Auch zivile Einrichtungen wie Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser wurden attackiert.
Menschen in Kyjiw sprachen später in ukrainischen Medien davon, dass es für sie der schwerste derartige Angriff seit Kriegsbeginn gewesen sei. Auch das ukrainische Militär bestätigte das. „Die Nacht war schlaflos und brutal“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Noch am folgenden Morgen war das Ausmaß der Angriffe zu sehen: Über das gesamte Stadtgebiet zogen giftige Rauchwolken hinweg; die Bewohner wurden aufgefordert, die Fenster geschlossen zu halten. Stunden nach dem Angriff kämpften Einsatzkräfte gegen die Brände, die in Wohnhäusern ausgebrochen waren. Die Bilanz: mehr als 20 verletzte Menschen, darunter mindestens ein Kind.
Schon in den Tagen zuvor hatte das russische Militär die Intensität der Angriffe auf die Hauptstadt gesteigert, die sonst relativ gut durch die Luftabwehr geschützt wird. Dabei setzt Russland laut Militärexperten auf eine perfide Strategie: Indem sie gezielt Kyjiw ins Visier nimmt und auch bewusst zivile Ziele angreift, versucht das russische Militär die ukrainische Abwehr stärker zu beanspruchen und eine möglichst hohe Feuerquote zu provozieren. Dadurch verbraucht das ukrainische Militär auch immer mehr Kapazitäten – und Munition wird knapp.
Dabei ist der Zeitpunkt für den jüngsten Angriff auf Kyjiw interessant: Kurz zuvor hatte die US-Regierung unter Donald Trump angekündigt, zumindest einen Teil ihrer Waffenzusagen vorerst nicht auszuliefern und stoppen zu wollen. Darunter sind offenbar auch wichtige Patriot-Fliegerabwehrraketen, das Himars-Mehrfachraketenwerfersystem und Artilleriemunition. Ein Fehlen der Patriot-Raketen aus den USA bedeutet einen drastischen Einschnitt für die ukrainische Abwehr, die jetzt schon unter einem akuten Mangel leidet. Denn ohne diese Technik, mit der die russischen Raketen abgefangen werden können, werden Angriffe für das russische Militär leichter. Daher ist der angekündigte Lieferstopp aus den USA zum jetzigen Zeitpunkt ein besonders schmerzhaftes Signal für die Ukraine.
Offiziell begründet die US-Regierung ihr Vorgehen mit den Beständen in den eigenen Depots. Sie spricht davon, „die Interessen Amerikas an erste Stelle zu stellen“. Das Verteidigungsministerium hatte nach eigenen Angaben die Hilfen für andere Länder auf der ganzen Welt
überprüft und dabei bemerkt, dass die Bestände einiger der Ukraine zugesagten Waffen zu gering geworden seien. Zugleich deutete Trump an, dass er die Hilfen für die Ukraine nicht vollständig einstellen wolle. Er wolle weiter mit der Ukraine zusammenarbeiten und „versuchen, ihnen zu helfen“, sagte er. Klar ist aber auch, dass es sich dabei um Hilfen handelt, die noch von der Vorgängerregierung unter Präsident Joe Biden zugesagt worden waren.
Nun könnten europäische Staaten versuchen, diese Lücke für die Ukraine zu füllen. Bei der Flugabwehr kann man die ausstehenden US-Lieferungen noch kompensieren. Die Bundesregierung macht deshalb einen ersten Schritt: Sie erwägt die Beschaffung von Patriot-Systemen
oder anderen Flugabwehrwaffen in den USA, um diese an die Ukraine
weiterzugeben. Das ist zumindest eine Option, die Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bei seinem anstehenden US-Besuch diskutieren will, wie Regierungssprecher Stefan Kornelius bestätigte. Doch bis dieser Weg Wirkung zeigt, werden die Menschen in Kyjiw womöglich noch viele schlaflose Nächte durchleben müssen.
Das Zitat: Enttäuschung bei Trump
Es war das sechste öffentlich bekannte Telefonat zwischen den beiden Staatschefs Donald Trump und Wladimir Putin. Nach dem knapp einstündigen Gespräch, das kurzfristig angesetzt wurde, zeigte sich Trump jedoch ziemlich ernüchtert. Er sei sehr
enttäuscht von der Unterhaltung, sagte der US-Präsident kurz und knapp.
Bei der Unterredung ist es nach Angaben von Trump zu
keinem nennenswerten Ergebnis gekommen. „Ich
habe keinerlei Fortschritte mit ihm gemacht“, sagte Trump über Putin in
einer kurzen Stellungnahme auf einem Luftwaffenstützpunkt
außerhalb Washingtons. Er habe mit dem russischen Präsidenten sowohl über den Iran als auch über die Ukraine gesprochen – mehr wurde vorerst nicht bekannt.
Russland wertet das Gespräch hingegen etwas positiver. Putins Berater behauptete, es sei konstruktiv verlaufen – beide Staatsführer hätten „auf einer Welle“ gelegen. Gleichzeitig hieß es von der russischen Staatsführung, man werde „nicht von von seinen Zielen zurückweichen und weiter die Ursachen des Konflikts bekämpfen“. Das zeigte Russland mit den Angriffen auf Kyjiw, die nur kurze Zeit nach dem Telefonat begannen.
Für die ukrainische Regierung sei das Vorgehen ein eindeutiges Zeichen, sagte Außenminister Andrij Sybiha. Putin zeige deutlich „seine völlige Verachtung für
die Vereinigten Staaten und alle, die ein Ende des Krieges gefordert
haben“.
Die wichtigsten Meldungen: Vorrücken auf Dnipropetrowsk und Angriff auf Ischewsk
- Mit Drohnen, Raketen und Artillerie will Russland in
der südostukrainischen Region Dnipropetrowsk vorgerückt sein. Dabei
gehen die Angaben auseinander: Das russische Militär behauptet, bereits das
Dorf Datschne eingenommen zu haben und so einen Brückenkopf in der ukrainisch
kontrollierten Region errichten zu können. Die Ukraine bestreitet einen
erfolgreichen Vorstoß in Dnipropetrowsk.
Die Lage ist in der Region auf jeden Fall angespannt: Laut
dem Institute Study of War (ISW) rückten russische Truppen mindestens an
die Grenze zur Region heran und nahmen dort den Ort Nowomykolajiwka ein. Damit
sind russische Soldaten erstmals seit Kriegsbeginn kurz davor, diese Region zu
betreten. Das wäre für die Ukraine nicht nur ein symbolischer sondern auch ein
strategischer Rückschlag. Denn die Region Dnipropetrowsk, ein wichtiger
Industrie- und Bergbaustandort, wird vollständig von der Ukraine kontrolliert. Russische
Vorstöße in die Region könnten daher die ukrainische Wirtschaft empfindlich
treffen.
- Inzwischen geraten auch militärische Ziele fernab der Front
immer mehr ins Visier ukrainischer Drohnenangriffe. Ziel war in dieser Woche die
Rüstungsfabrik Kupol in der russischen Großstadt Ischewsk. Dabei soll es
mindestens drei Tote gegeben haben, genaue Zahlen sind aber nicht bekannt.
Die Stadt in der Region Udmurtien liegt mehr als 1.000
Kilometer hinter der ukrainischen Grenze und gilt als Schlüsselregion für die
Waffenherstellung in Russland. Der Ort ist besonders bekannt für die Produktion
der Kalaschnikow-Gewehre. Die angegriffene Fabrik Kupol stellt unter anderem
Raketen für Flugabwehrkomplexe her und steht wegen seiner Rüstungsproduktion
auf den EU-Sanktionslisten.
- Der stellvertretende Chef der russischen Marine ist in der
russischen Grenzregion Kursk getötet worden. Das bestätigte das russische
Verteidigungsministerium. Zuvor hatte Gudkow eine Marineinfanterie-Brigade geleitet, die bei der Schlacht um die ostukrainische Stadt
Wuhledar beteiligt war.
Die Ukraine wirft der Brigade unter anderem die Tötung ukrainischer Kriegsgefangener und weitere Kriegsverbrechen vor. Gudkow ist nicht der
erste russische General, den die Ukraine im Krieg töten konnte.
Bestätigt wurde – einschließlich Gudkow – bislang der Tod von zwölf
Offizieren im
Generalsrang.
- Westliche Nachrichtendienste gehen
davon aus, dass Russland im großen Umfang
verbotene chemische Waffen einsetzt. Dazu gehöre auch der Abwurf des Erstickungsmittels Chlorpikrin von Drohnen aus,
um Soldaten gezielt aus Schützengräben zu vertreiben und dann zu
erschießen, sagte der niederländische Verteidigungsminister Ruben
Brekelmans der Nachrichtenagentur Reuters.
Mindestens drei ukrainische Tote seien auf den Einsatz von Chemiewaffen zurückzuführen, 2.500 verletzte ukrainische Soldaten würden darüber hinaus entsprechende Symptome aufweisen. „Die wichtigste Schlussfolgerung ist, dass wir bestätigen können, dass Russland seinen Einsatz von Chemiewaffen intensiviert“, sagte Brekelmans. „Diese Intensivierung ist besorgniserregend, weil sie Teil eines Trends ist, den wir seit mehreren Jahren beobachten: Russlands Einsatz von Chemiewaffen in diesem Krieg wird immer normaler, standardisierter und weiter verbreitet.“
Waffenlieferungen und Militärhilfen:
- Bei seinem Antrittsbesuch in Kyjiw hat sich der deutsche
Außenminister Johann Wadephul für Joint Ventures in der Waffenproduktion ausgesprochen.
„Unsere Rüstungszusammenarbeit ist ein echter Trumpf“, sagte Wadephul
(CDU) beim Treffen mit seinem ukrainischen Kollegen Andrij Sybiha. Geplant
sind nach deutschen Angaben Gemeinschaftsunternehmen in der Rüstungsindustrie.
- Deutschland hat mit der Finanzierung weitreichender
Waffensysteme für die Verteidigung der Ukraine begonnen. Nach einem Bericht der
wurde ein erster Vertrag unterzeichnet, um den Bau von mehr als 500
Langstreckendrohnen vom Typ Antonow-196 zu bezahlen.
Diese Kamikazedrohnen haben demnach eine Reichweite von
1.200 Kilometern und tragen eine Sprengladung von 50 Kilogramm. Sie sind damit
geeignet, auch über weitere Distanzen sogenannte weichere Ziele anzugreifen,
die nicht besonders geschützt sind – darunter Lagerstätten und Treibstofftanks.