Er sprach meist mit einem
feinen Lächeln, das man, wenn mit ihm telefonierte, sogar hören konnte. Denn
dieser Mann wusste Bescheid. Carl Hegemann wirkte im Innersten unüberraschbar,
als habe er alles, was geschieht und geschehen könnte, schon als Möglichkeit in
ein großes Ideenschlachtengemälde hineinskizziert, an dem er im Geiste malte.
Und das wenige, das Hegemann
sich nicht schon in seiner unermüdlichen Fantasie ausgemalt hatte, wurde ihm
von Informanten zugetragen. Er war nämlich bestens vernetzt. Wenn man ihn traf,
zeigte er sich stets darüber belustigt, dass jetzt endlich eintraf, was er eh
schon vorausgesehen hatte (beispielsweise die neueste Etatkürzung oder das
Scheitern dieses oder jenes Berliner Kultursenators).
Etwas Spielerisches war in
allem, was Carl Hegemann tat und sprach. „Denn, um es endlich auf einmal
herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung
des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch,
wo er spielt.“ Friedrich Schillers Befund hätte Carl Hegemann nicht nur
unterschrieben, er verkörperte ihn sogar. Den Dramaturgen, den Theatermann, den
listigen In-Theaterfoyers-Herumsteher und Das-Kunstbiotop-Beäuger spielte er
mit Genuss. Er wollte, dass das Theater ein „organischer Teil der
Stadtentwicklung“ ist. In seinen Worten: „Wenn die Stadt Berlin eine
Theaterstadt ist, dann gibt es keinen Grund, warum hier nur Architekten bauen,
im Monumental-Stil oder im Adlon-Stil. Dann müssen auch Bühnenbildner in der
Stadt wirken.“
Zugleich war Hegemann aber
völlig klar, dass das Theater über die Jahre und Jahrzehnte einen
Relevanzverlust erlitten hatte: Der menschliche Voyeurismus werde im Fernsehen
besser und billiger bedient als bei Ibsen, sagte er. Deshalb gelte es, das
Theater als einmalige, offene Situation zu begreifen und die Bühne als einen
Ort, an dem jeden Abend etwas anderes geschehen könne – auch das Scheitern.
Zitat Hegemann: „Wenn Peter
Stein den größten Wert darauf legt, dass seine Inszenierungen ständig
gleichbleibend wiederholbar sind, dann verfolgt er einen industriellen
Produktionsbegriff, der gerade dem Spezifischen des Theaters nicht entspricht.
Dann sieht die Inszenierung im Zweifelsfall eher wie aufgeblasenes oder
abgeblasenes Kino aus.“
Für Hegemanns Theater galt:
Es sah niemals wie aufgeblasenes Kino aus. Es war zuweilen genial, gekonnt
ungekonnt, gewollt unwillig, ein Prozess, eine Performance. Und sein zentraler
Produktions- und Denkort war die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz –
jenes Haus, das 1992 auf Rat des damaligen Cheftheaterdenkers Ivan Nagel dem
Ostregisseur Frank Castorf als Intendanten überlassen wurde mit der Prognose,
die Volksbühne werde in Kürze entweder „weltberühmt oder tot“ sein. Sie wurde
weltberühmt und wirkte nur selten tot (oder eigentlich untot), und Hegemann
war, mit Unterbrechungen, Castorfs Dramaturg bis zu dessen unfreiwilligem
Abschied 2017.
Mit Castorf, so sagte
Hegemann uns einmal, habe er ein seltsam symbiotisches Verhältnis: „Wir
entwickeln unsere Sachen unabhängig voneinander und sind dann verblüfft, wie
gut sie zusammenpassen. Ich schreibe einen Artikel über eine neue Inszenierung,
über die wir noch nicht gesprochen haben. Und meistens entsprechen meine
Artikel auf wundersame Weise dem, was er sich vorgestellt hat.“
Hinter vorgehaltener Hand
sagte er es ein wenig süffisanter: Im Programmheft könne Castorf jeweils lesen,
worum sich seine neue Inszenierung drehe – da stehe ja dann der wegweisende
Text von ihm, Carl Hegemann.
Den Ruhm der Volksbühne sah
er mit Skepsis, allerdings mit einer Skepsis, in der etwas Triumphales
mitschwang: „Es gibt die Gefahr, am Erfolg zu ersticken. Zum Beispiel, wenn man
immerzu auf Gastspielreise ist; wenn man Intellektuelle in allen Ländern zur
Verblüffung bringt. Aber in Berlin verblüfft man natürlich keinen mehr. Hier
haben sich unsere Methoden durchgesetzt.“ Er empfand sein Haus als jenen Ort,
an dem das Neue stattfinde. Und wenn das Neue „durch“ sei, werde es in den
„Ausschüssen“, also an allen anderen Theatern, weiter diskutiert – und
nachgeahmt.