Die Liste von Firmen, die hierzulande Stellenabbau im vierstelligen Bereich planen, wird länger und länger. Und es ist längst nicht nur die Autoindustrie, wie die Beispiele Thyssenkrupp und BASF zeigen. Ob Großkonzern oder Mittelständler: Werksschließungen, Jobabbau und Verlagerungen ins Ausland sind an der Tagesordnung. Und während der Bundeskanzler den Rekord bei der Erwerbstätigkeit feiert, geht in den Belegschaften erstmals seit Langem die Angst vor Arbeitslosigkeit wieder um.
Natürlich gibt es freie Stellen auf dem Arbeitsmarkt mit seinen 46 Millionen Beschäftigten. Nur finden die sich eben vor allem in Gesundheitswesen und Öffentlichem Dienst. In der Industrie hingegen, wo die Löhne höher sind, an dessen Wohlergehen auch viele hochqualifizierte Dienstleistungsjobs hängen, sieht es düster aus, wenn man die wenigen Ausnahmen außen vor lässt. Konkret zählt die Bundesagentur für Arbeit (BA), Stand September, allein im verarbeitenden Gewerbe und dem Bau 110.000 Beschäftigte weniger als im Vorjahr. Und die Kündigungspläne der großen Konzerne findet sich in den Zahlen noch gar nicht wider.
Das diffuse Bild macht die Beurteilung der Lage so schwierig. „Auch in Zeiten von Stellenabbau in der Industrie ist der deutsche Arbeitsmarkt immer noch aufnahmefähig“, heißt es bei der BA. Aktuell 1,3 Millionen offene Stellen zählt das an die Behörde angegliederte Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Die meisten aber eben nicht bei Industriebetrieben. Nur eine Handvoll Firmen – Rheinmetall etwa – freuen sich über volle Auftragsbücher. Um die Aufträge abzuarbeiten, braucht es mehr Personal.
Für Andrea Nahles ist das dann eine Chance. Die Chefin der BA will eingreifen, bevor die Beschäftigten der Krisenfirmen in der Arbeitslosigkeit landen. Helfen sollen sogenannte Arbeitsmarkt-Drehscheiben. Dabei wechseln Arbeitnehmer in einen möglichst nahegelegenen Betrieb, ohne, dass es zu großen Unterbrechungen und der Zahlung von Arbeitslosengeld kommt.
Der erste Schritt der Drehscheibe ist wohl auch der heikelste. Das betroffene Unternehmen muss die Bundesagentur für Arbeit frühzeitig und am besten vor der Öffentlichkeit über geplante Entlassungen informieren. Diese Art der Zusammenarbeit von Betrieben, die sonst kaum etwas mit der BA zu tun haben, sei „wirklich eine Vertrauensfrage“, wie Nahles sagt.
Wenn das gelingt, beraten die BA-Mitarbeiter die Geschäftsführung: Welche Qualifikationen haben diejenigen, die entlassen werden sollen, und wie passen sie zum potenziell neuen Arbeitgeber? Oft ist eine Weiterbildung nötig – die die beitragsfinanzierte BA bezuschussen kann. Wenn sich alle Beteiligten einig werden, endet die Drehscheibe mit der erfolgreichen Neueinstellung.
Soweit die Theorie. In der Praxis sind die Modelle bisher ein Tropfen auf dem heißen Stein. „Die Arbeitsmarktdrehscheiben haben aktuell noch Pilotcharakter“, heißt es bei der Bundesagentur für Arbeit. Einige der bundesweit rund 30 Projekte sind zudem erst im Aufbau. Wie viele Beschäftigte konkret vermittelt wurden und was das dann kostet, kann die Behörde nicht sagen – beides wird nicht statistisch ausgewertet.
Eine Bilanz könne man ebenfalls noch nicht ziehen, sagt eine Sprecherin. Vielmehr gehe es darum, aus der Praxis zu lernen, um die Drehscheiben in Zukunft als „Regelinstrument in Zeiten der Transformation zu installieren“. Ob die bisherige Ausnahme tatsächlich zur Regel wird, bleibt abzuwarten.
Gerade, wenn es um Stellenabbau im großen Stil geht, sind auch die Gewerkschaften gut informiert. Evelyn Räder, Abteilungsleiterin für Arbeitsmarkt beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), hat sich mit den bisherigen Drehscheiben beschäftigt und gibt zu Bedenken: „Die Beschäftigungssicherung im bisherigen Unternehmen spielt hierbei scheinbar eine nachgeordnete Rolle.“
Und sie stellt klar: „Arbeitsmarkt-Drehscheiben sind auch ohne BA denkbar.“ Die Gewerkschaft Ver.di beispielsweise habe eine Drehscheibe selbst ins Rotieren gebracht, als zu Beginn des Jahres mehr als ein Drittel von 380 ehemaligen Karstadt-Beschäftigten in Berlin zur Deutschen Rentenversicherung wechselten.
Bislang „ein zähes Geschäft“, gesteht Nahles
Einzelne Erfolgsbeispiele stellte auch Andrea Nahles kürzlich bei einem Presseseminar vor. Meist geht es um eine Handvoll Beschäftigte, selten sind es Wechsel in dreistelliger Zahl. Die Dimensionen in der Industrie sind ganz andere, wie die BA-Statistiken zeigen. Ein „Alarmsignal für den Arbeitsmarkt“ seien die zahlreichen Entlassungspläne, so Nahles.
Die Verlagerung von Industriejobs durch Weiterbildung sei bislang eher „ein zähes Geschäft“, gestand die Behördenchefin ein. Nicht nur, aber auch, weil es wohl oft eine „Transformation hin zu schlechter bezahlten Beschäftigungen“ sei. Das zeigt sich exemplarisch bei VW: Wohl kaum ein anderes Unternehmen in der Region zahlt mehr als die 56.000 Euro Durchschnittsgehalt eines Werksmitarbeiters.
Neu ist der Gedanke der Job-Übergänge nicht. In der Vergangenheit wurden dafür meist Transfergesellschaften gegründet. Oft erwiesen sich die aber als teuer und ineffizient. Als mahnendes Negativbeispiel gilt Opel in Bochum. Nur 260 von 2600 Beschäftigten gelang der Transfer in andere Jobs, nachdem das Werk Ende 2014 schließen musste.
„Die Transfergesellschaften haben die Arbeitslosigkeit teilweise sogar verlängert“, so die Mahnung von Ex-SPD-Chefin Nahles vor ein paar Wochen. Mit einem „Job-to-Job-Ansatz“ wolle man nun frühzeitig intervenieren und Unternehmen lokal vernetzen. „Darüber hinaus eröffnet das Paradoxon aus einerseits Personalabbau und andererseits Fachkräftemangel in einigen Branchen Möglichkeiten für Beschäftigte mit dem Wunsch nach Neuorientierung“, heißt es bei der BA.
Zwar gebe es sie, die Erfolge im Kleinen. Als Positiv-Beispiel gilt Continental. Auch Christiane Benner, Chefin der IG Metall, die bei Conti im Aufsichtsrat sitzt, erwähnt den Betrieb oft. Das Traditionsunternehmen schließt im niedersächsischen Gifhorn ein Werk. Bis Ende 2027 sollen 900 Beschäftigte bei Siemens, Stiebel Eltron und Rheinmetall unterkommen.
Gelingt das, wäre es die mit Abstand größte Drehscheibe bislang. Auf Nachfrage bei Conti heißt es jedoch, man könne noch nicht prognostizieren, wie viele Beschäftigte tatsächlich zu den anderen Betrieben wechseln werden. 70 Arbeitnehmer seien nun im Bewerbungsprozess, erste Anschlussbeschäftigungen wurden vertraglich geschlossen.
„Nicht überall“ geht der Plan auf, gab BA-Chefin Nahles zu. So sei die „Frühverrentungspraxis“ einiger Firmen, etwa durch hohe Abfindungen, ein Problem. Gerade bei dem kriselnden Volkswagen-Konzern ist das Praxis: Meist gut ausgebildete Fachkräfte werden mit Ende 50 in Rente geschickt. „Das ist mit Hintergrund der Demografie und Fachkräftemangel der falsche Weg“, sagt Nahles.
Einige Betriebe sind zudem nicht an Kooperationen mit Behörden interessiert. Nahles berichtete von Zulieferern, die Stellen abbauen wollten, alle Anfragen der BA aber ablehnten: „Da sind wir einfach nicht reingekommen.“ Generell will Nahles nicht zu viel versprechen. „Wir sind noch am Anfang des Modells.“
Damit dürfte klar sein: Den Abwärtstrend in der Industrie wird die Behörde höchstens kosmetisch begleiten können.
Jan Klauth ist Wirtschaftsredakteur in Berlin. Er berichtet über Arbeitsmarkt-Themen, Bürgergeld, Migration und Sozialpolitik sowie Karriere-Themen. Den zugehörigen Newsletter können Sie hier abonnieren. 2023 und 2024 arbeitete er für einige Monate in den USA.