Luftalarm in Kyjiw: Er wird von diesem Maiabend an mehr als 20 Stunden anhalten. Ähnlich ergeht es den anderen Regionen des Landes. Vom vergangenen Freitag bis zum Montagmorgen überzog die russische Armee die Ukraine mit einer Angriffswelle nach der anderen. 995 Drohnen, Marschflugkörper und Raketen zählte das ukrainische Militär in nur drei Tagen. Die meisten Flugkörper wurden demnach abgeschossen, doch nicht alle. Allein in Kyjiw werden in einer Nacht 12 Menschen getötet und fast 80 verletzt.
Als Russland im Spätherbst 2022 begann, Kamikazedrohnen des Typs Shahed aus dem Iran zu importieren, warnte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor einem drohenden Masseneinsatz der Waffe. Mehr als 2.000 Drohnen habe Russland bestellt und wolle sie über den Winter verteilt gegen das ukrainische Energiesystem richten. Jetzt, mehr als zwei Jahre später, erscheinen diese Zahlen nahezu gering: Einen Monat mit weniger als 1.000 Drohnen hat es in der Ukraine seit Sommer 2024 nicht mehr gegeben. Russland ist dabei längst nicht mehr auf iranische Lieferungen angewiesen, sondern lässt die Drohnen in einem Industriekomplex in Tatarstan zusammenbauen – Berichten zufolge bis zu 100 am Tag.
Die ukrainische Flugabwehr wird nicht nur von der schieren Masse an den Rand ihrer Möglichkeiten gebracht. Sondern auch davon, dass Russland seine Drohnen stetig weiterentwickelt und sie in mehreren Versionen einsetzt. Einige fliegen ohne Sprengsatz und sollen die Flugabwehr ablenken – etwa 40 Prozent der Drohnen sind inzwischen nach ukrainischen Angaben Täuschkörper. In anderen ließ Russland auf Kosten der Reichweite das Gewicht des Gefechtskopfs von etwa 50 auf bis zu 90 Kilogramm erhöhen. Ukrainischen und westlichen Medienberichten zufolge experimentiert das russische Militär auch mit Gefechtsköpfen unterschiedlicher Art, mit Splittermunition, thermobarischen Sprengsätzen und Brandmunition, wobei es sich dabei nach ukrainischen Angaben um Ausnahmen handeln scheint.
Das ukrainische Militär warnt auch vor einer neuen Taktik der Angreifer, welche die bislang erfolgreiche ukrainische Gegenwehr ausschalten soll. Da die Drohnen zu billig sind – und zu viele –, um sie mit teuren Flugabwehrraketen abzuschießen, hat die Ukraine im Laufe der Kriegsjahre die sogenannten mobilen Gruppen aufgebaut. Quer über das Land verteilt fahren sie mit alten Flugabwehrkanonen oder zu solchen umgebauten Maschinengewehren auf Trucks umher und schießen die Drohnen ab. Dabei machten sich die Verteidiger zunutze, dass die Drohnen vergleichsweise tief fliegen, um schlechter vom Radar erkannt zu werden.
Genau das habe Russland nun verändert, sagte vor wenigen Tagen der ukrainische Luftwaffensprecher Serhij Ihnat. Die Drohnen würden auf Höhen von bis zu zwei Kilometern fliegen. Vereinzelt soll sogar eine Höhe von knapp fünf Kilometern registriert worden sein, sagte der Sprecher einer ukrainischen Militärbehörde. Für die Waffen der mobilen Gruppen sind sie damit unerreichbar. Auch darauf hat die Ukraine zwar eine Antwort: Leichtflugzeuge, die, mit Schützen an Bord, die Drohnen abschießen, etwa. Oder Abfangdrohnen, die vertikal starten und die Flugkörper bekämpfen. Doch beides sind Nischenlösungen.
Unter der neuen Taktik der Angreifer leidet zwar die Präzision der Attacken: Aus derartigen Höhen fällt der steile Sinkflug auf das Ziel schwieriger. Doch um Präzisionsangriffe handelte es sich bei den russischen Drohnenangriffen ohnehin nie. Neben dem Ziel, den Widerstandswillen der Zivilbevölkerung zu brechen, verfolgen sie weiterhin denselben Zweck wie seit Beginn ihres Einsatzes: die Übersättigung der ukrainischen Flugabwehr mit Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen.
Vor allem Raketen kann die Ukraine nur mit wenigen Systemen abschießen. Darunter fällt etwa das Patriot-System, für das Berichten zufolge langsam die Raketen ausgehen. So werden jährlich nur wenige Hundert der Raketen für die Patriot-Werfer in die Ukraine geliefert, während Russland mehr als 1.000 Raketen und Marschflugkörper im Jahr produziert. Für SAMP/T, ein europäisches, mit Patriot vergleichbares System, sollen der Ukraine laut einem Bericht von die Flugabwehrraketen angeblich komplett ausgegangen sein. Mit dem Produktionstempo der russischen Kriegswirtschaft kommen die Unterstützerländer der Ukraine auch bei der Luftverteidigung nicht mit. Der britische zitierte einen ukrainischen Luftfahrtexperten mit der Schlussfolgerung: „Wir werden russische Abschussrampen, (Rüstungs)produktionen und Lager zerstören müssen.“ Eine andere Art des Widerstands sei auf Dauer illusorisch.
Das ist es auch, was die Ukraine zu tun versucht. Denn Russland meldete in den vergangenen Wochen so viele ukrainische Drohnen in seinem Luftraum wie nie zuvor: beispielsweise 376 in nur einer Nacht. Ihren eigenen Einsatz von Drohnen zu erhöhen, ist das selbsterklärte Ziel der Ukraine. Vor wenigen Monaten hatte Selenskyj für 2025 die Produktion von 30.000 Langstreckendrohnen in Aussicht gestellt. In diesem Monat hatten ukrainische Angriffe zu mehrtägigen Flughafenausfällen um Moskau herum gesorgt, aber hatten auch Munitions- und Chipfabriken als Ziel. In der Nähe Moskaus wurde eine Drohnenfabrik attackiert, der große Industriekomplex in Tatarstan wird regelmäßig Ziel ukrainischer Angriffe.
Doch anders als Russland kann die Ukraine ihre Drohnenangriffe, wenngleich sie sich deutlich gezielter gegen militärisch relevante Einrichtungen richten, nicht mit Marschflugkörpern und Raketen flankieren. Zwar produziert das Land inzwischen sogenannte „Raketendrohnen“, also Drohnen mit Jetantrieb, die deutlich schneller fliegen als die bisherigen Modelle. Doch an die Geschwindigkeit und die Sprengkraft echter Raketen reichen sie nicht heran. Wenngleich Selenskyj schon mehrfach von erfolgreichen Flugtests einer ukrainischen ballistischen Rakete berichtet hatte, gibt es bislang keinerlei Anzeichen für Serienreife.
Somit verfehlen die Angriffe beider Seiten, so unterschiedlich sie in ihren Zielen sind, gleichermaßen ihren Zweck: Die russischen Angriffe haben den Widerstandswillen der Ukraine nicht spürbar gesenkt. Und die ukrainischen Attacken hat der russischen Rüstungsindustrie keinen wirksamen Schaden zugefügt. Der Luftkrieg beider Kriegsparteien hat neue Ausmaße erreicht, brachte aber bislang keiner Seite einen nennenswerten Erfolg.
Die wichtigste Meldung und die Zitate: Rhetorischer Politikwechsel
Als Oppositionschef hatte Friedrich Merz in der Ukraine-Unterstützung einen Politikwechsel versprochen. Diesen vollzieht er nun als Bundeskanzler – allerdings, wie die Ereignisse der vergangenen Tage zeigten, derzeit vor allem rhetorisch. So sorgte Merz am Montag bei einer Veranstaltung des WDR für Verwirrung mit einer Aussage zur Reichweitenbeschränkung von Waffen, die in die Ukraine geliefert worden sind:
Nachdem unter anderem Vizekanzler Lars Klingbeil widersprach, stellte Merz klar: Ein neuer Schritt sei das nicht, sondern der bereits seit vergangenem Herbst geltende Stand. Damals hatten die USA, Frankreich und Großbritannien den Einsatz von Raketen und Marschflugkörpern, die sie der Ukraine lieferten, in russischem Gebiet gestattet – auch außerhalb einer bereits im Mai 2024 freigegebenen Grenzzone. Die Nennung Deutschlands in diesem Kontext ist weitgehend rhetorisch: Schließlich lieferte Deutschland bislang keine Waffen, deren Reichweiten davon betroffen wären.
Bei dem Besuch von Wolodymyr Selenskyj in Berlin am Mittwoch kündigte Merz an, die Beschaffung weitreichender Waffen aus ukrainischer Produktion zu finanzieren. Und ergänzte die Ankündigung mit dem Satz:
Verbal setzte sich Merz damit deutlich von seinem Vorgänger Olaf Scholz ab, der stets die Ansicht vertreten hatte, die Ukraine dürfe Ziele im Innern Russlands nicht mit westlicher Hilfe angreifen können. Doch tatsächlich handelt es sich auch hier nicht um den Richtungswechsel, den eine Taurus-Lieferung bedeuten würde. Denn auch andere Staaten finanzieren schon lange die Produktion von ukrainischen Waffen. Eine Auflage für deren Reichweite gab es dabei nie, das galt immer nur für westliche Modelle.
Was genau mit deutscher Hilfe produziert werden soll, ließ Merz offen. Allerdings teilte das Verteidigungsministerium mit, die betreffenden Waffen könnten womöglich bereits „in wenigen Wochen“ einsatzbereit sein. Dass es sich um einen neuen Waffentyp geht, etwa einen dem Taurus ähnelnden Marschflugkörper, scheint angesichts dessen wenig wahrscheinlich. Mutmaßlich geht es dabei um ukrainische Langstreckendrohnen. Die aber sind nicht mit dem Taurus vergleichbar: Weder verfügen sie über einen schweren Gefechtskopf noch über ein eigenes Navigationssystem.
Der Unterschied in Merz‘ Ankündigungen zu jenen seines Vorgängers ist somit weitgehend rhetorisch: Anders als Scholz will der neue Kanzler die Taurus-Lieferung nicht endgültig ausschließen, wie er am Mittwochabend dem ZDF sagte. Dass er den Marschflugkörper nicht liefern wolle, liege daran, dass die ukrainischen Soldaten daran monatelang ausgebildet werden müssten und die Waffe ihnen nicht unmittelbar helfen werde.
Die fünf Milliarden Euro, mit denen die vom Kanzler angekündigte Militärhilfen finanziert werden sollen, sind nach Regierungsangaben bereits vom Bundestag bewilligt worden – im März, also noch in der vergangenen Legislaturperiode.
Die Flugabwehrsysteme, Artillerie und „Landwaffen“, um die es dabei
laut dem Verteidigungsministerium geht, will die neue Regierung nicht
konkret nennen. Doch die archivierte Version der Übersicht über gelieferte und zugesagte Waffen zeigt: Viele Lieferungen stehen noch aus. Zugesagt wurden sie von der Regierung Scholz.
Offener als sein Vorgänger zeigte sich Merz dafür, das in der EU eingefrorene russische Staatsvermögen von mehr als 200 Milliarden Euro zu beschlagnahmen und damit die Ukraine zu unterstützen. So sagte er dem ZDF dazu:
Scholz galt als Gegner der seit Langem in der EU diskutierten Maßnahme. Derzeit finanziert die EU einen Teil der Ukrainehilfen aus Zinsen auf das eingefrorene Vermögen, hat aber juristische Bedenken dabei, es gänzlich zu beschlagnahmen. Merz scheint diese Bedenken seines Vorgängers zu teilen. Das zeigt ein Nachsatz im ZDF-Interview:
Weitere Meldungen: Nordkoreas Waffenlieferungen und Terror in Cherson
Militärhilfe von Kim Jong Un: Nordkorea hat Russland nach Angaben eines internationalen Überwachungsgremiums für die Einhaltung von Sanktionen seit Ende 2023 mindestens 20.000 Container mit Munition geliefert. Das teilte das Multilateral Sanctions Monitoring Team (MSMT) mit (PDF), das Sanktionen des UN-Sicherheitsrats, unter die Nordkorea fällt, überwacht. Das entspräche schätzungsweise neun Millionen Artilleriegranaten. Weiterhin habe Nordkorea im vergangenen Jahr mindestens 100 ballistische Raketen und schwere Artillerie geliefert.
Kriegsverbrechen: Eine Kommission des UN-Menschenrechtsrats hat Russland in einem neuen Bericht (PDF) zur Lage in der südukrainischen Großstadt Cherson Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Die UN-Behörde bestätigte ukrainische Angaben, wonach russische Soldaten vom Ostufer des Dnipro aus Zivilisten in Cherson attackierten. Die Stadt liegt auf dem ukrainisch kontrollierten Westufer und damit in Reichweite von Artillerie und kleinen Drohnen. Seit ihrer Befreiung im November 2022 wird sie intensiv von Russland beschossen.
Die Angriffe haben nach UN-Angaben systematischen Charakter und dienten dazu, „Terror“ zu verbreiten. Dabei seien in und um Cherson herum 150 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden.
In dem Bericht werden auch russische Telegramkanäle zitiert, in denen
den Einwohnern der befreiten Großstadt „Jagd“ auf sie angedroht wird. In den Kanälen werden auch Angriffe auf Rettungswagen per Video dokumentiert und angepriesen.
Waffenlieferungen und Militärhilfen: Luftverteidigung und Kampfjets
Flugabwehr: Im Rahmen des deutschen Fünf-Milliarden-Euro-Pakets für die Ukraine hat das Unternehmen Diehl Defence eine Absichtserklärung für die Lieferung von Luftverteidigungssystemen an die Ukraine unterzeichnet. Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums geht es um einen Umfang von 2,2 Milliarden Euro. Konkrete Waffentypen wurden nicht genannt. Diehl Defence stellt unter anderem das moderne Raketenabwehrsystem Iris-T SLM her, das in der Ukraine im Einsatz ist.
Kampfjets: Die Niederlande haben ihre Zusage von 24 Kampfjets des Typs F-16 erfüllt. Die letzten zugesagten Jets seien bereitgestellt, teilte das niederländische Verteidigungsministerium am Dienstag mit. Wie viele Maschinen des Typs die Ukraine bislang genau erhalten hat, ist unbekannt.
Unterm Radar: Russlands Rekrutierungstempo steigt
2024 konnte Russland offenbar noch mehr Soldaten rekrutieren als im Jahr davor. Das geht laut dem exilrussischen Onlineportalund dem Osteuropaforscher Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) aus Daten des russischen Finanzministeriums hervor. Insgesamt hätten sich im vergangenen Jahr zwischen 374.000 und 407.000 Russen für den Kriegseinsatz gegen die Ukraine verpflichtet, knapp 50.000 mehr als 2023.
Grundlage der Angaben sind demnach staatliche Berichte über die Auszahlung von Rekrutierungsprämien. Diese werden inzwischen größtenteils von den jeweiligen Herkunftsregionen der Rekruten geleistet, ein Teil der Zahlung kommt jedoch aus dem Staatshaushalt. Diese Zahlung hatte Putin im vergangenen August auf 400.000 Rubel (4.480 Euro) verdoppelt, was und Kluge zufolge für die Unsicherheit in der daraus abgeleiteten Gesamtzahl der Rekruten sorgt.
Falls die Angaben stimmen, würde das bedeuten, dass Russland im letzten Jahresviertel 2024 fast 157.000 Soldaten angeworben hat – oder 1.706 am Tag. Das übersteigt die ukrainischen Angaben über die tägliche Zahl getöteter und verletzter russischer Soldaten um mehrere Hundert – und könnte erklären, warum der russische Präsident weitere Eroberungen in der Ukraine trotz seiner Verluste für wahrscheinlich hält: Bislang nehmen ausreichend russische Männer die hohen Prämien für den Militärdienst an.
Das Institute for the Study of War (ISW) hatte im vergangenen Herbst gemutmaßt, das russische Rekrutierungsmodell würde noch weit bis ins Jahr 2026 hinein funktionieren. Die von und Kluge berichteten Zahlen scheinen diese Einschätzung zu stützen. Für die Ukraine stellt das ein gewaltiges Problem dar: Dort gilt bereits die Mobilmachung von 200.000 neuen Soldaten pro Jahr als schwer erreichbar.