Der letzte Ton war ein zartes zweigestrichenes a, leise
draufgesetzt auf den ohnehin so sanften Schlussakkord. Dieser allmählich
verklingende Ton hallte nach im weiten Saal, endlose Sekunden, ein bisschen
wehmütig, ein bisschen wissend, lächelnd-melancholisch, aber in einem höheren
Sinne fast heiter, ja offen. Es war der letzte Berliner Ton einer märchenhaften
Pianistenkarriere: Alfred Brendel war 2008 auf seiner weltweiten
Abschiedstournee (die in Wien zu Ende gehen sollte) auch in die Philharmonie
gekommen, und die 2.500 Zuhörerinnen und Zuhörer hatten wohl alle gerätselt, was seine
allerletzte Zugabe werden würde, in jedem Fall sicherlich klug ausgewählt, wie
immer bei diesem Künstler. Es wurde Franz Liszts auf einem Schweizer See in die
Abendsonne gleitendes Stück aus dessen Zyklus . Ein kleines, nicht sonderlich berühmtes, sogleich
bezauberndes Stück, eine sehr überraschende, natürlich sehr geniale Wahl – und
wohl die allermeisten im Saal hatten Tränen in den Augen bei diesem endgültigen
Abschiedston.
Alfred Brendel war einer der ganz großen Pianisten des 20.
Jahrhunderts. Er hat das Klavierspiel verändert, das Repertoire, seine
Zuhörerinnen und Zuhörer. In seiner Wahlheimat London, wo er seit den frühen
Siebzigerjahren lebte, ist er nun am 17. Juni im Alter von 94 Jahren gestorben.
Die Zeit zwischen Karriereende und Tod verbrachte Brendel mit dem, was er sonst
noch so gerne und virtuos tat: schreiben, unterrichten, über Musik reden – und
sich intensiv mit allen Künsten beschäftigen.
1931 geboren, wuchs Alfred Brendel in Zagreb auf, erhielt als Sechsjähriger erstmals Klavierunterricht, bevor seine Familie nach Graz
übersiedelte. Später in der Schweiz wurde er Schüler des legendären Pianisten
Edwin Fischer, was allerdings nicht nur positive Folgen hatte: Nie hat Brendel
Bachs eingespielt, jenes viel beschworene „Alte
Testament“ der Klavierliteratur (im Gegensatz zu Beethovens 32 Sonaten als
„Neuem Testament“, in die Brendel sich gleich mehrfach zyklisch stürzte).
Fischers legendäre Bach-Einspielung hindere ihn daran, sagte Brendel.
Schritt für Schritt begann Brendels internationale Karriere,
die durchaus Galeerenjahre kannte, bis Brendel schließlich in Wien in den
Siebzigerjahren kein Geheimtipp mehr war, sondern eine Instanz wurde. Das lag
vor allem an seiner tiefgründigen Interpretation von Schuberts Klavierwerken,
die er aus dem Schatten Beethovens befreite und als Meisterwerke im Konzertsaal
etablierte. Brendel spielte vermeintlich langweilige Haydn-Sonaten so, dass sie
mal sprühten, mal träumten. Den späten Liszt hat er ebenfalls wiederentdeckt: umdüsterte, einsame Klavierstücke, die sich schon auf den Weg zur Atonalität
des 20. Jahrhunderts machen – Brendel hat sie radikal modern interpretiert.
Sein Spiel hatte im Unterschied beispielsweise zu dem der russischen Großmeister Emil Gilels oder Swjatoslaw Richter nichts
Heroisch-Titanisches. Ein Tastendonnerer war er nie. Stattdessen hat Brendel
die Musik durchdrungen und durchdacht, seine Klangfarben waren subtil
entwickelt, auf eine geradezu exzessive Weise. Das hat ihm bei manchen den Ruf eines stets
kontrolliert Verkopften eingebracht, der nicht intuitiv, nicht aus dem Bauch
heraus spiele. Im Gespräch brachte er es so auf den Punkt: „Es stört mich,
wenn man mich als Musiker einen Intellektuellen nennt. Für mich beginnt und
endet die Musik im Gefühl, allerdings hat der Verstand eine wichtige Funktion
als Filter.“
Alfred Brendel sind viele ergreifende Interpretationen
geglückt, wie bei den späten Schubert-Sonaten. Und er hat dabei einen
unverwechselbaren, schwer zu beschreibenden, typischen Brendel-Klang aus dem
Steinway-Flügel gezaubert: von allerhöchster Anschlagskunst, stets hell und
transparent, nie scharf oder kalt oder dick, eher inwendig glühend.
Erstaunlicherweise wurde er so wirklich jeder Feinheit in den Noten gerecht,
ohne dass je der musikalische Zusammenhang in seiner Gestaltung verloren
gegangen wäre. Brendel schaffte Tonwelten mit feinen transzendenten Effekten.
Wer dem hageren, hoch aufgeschossenen, etwas spitzweghaft anmutenden Hagestolz
zuhörte, mit markanter Brille und heftig arbeitender Gesichtsmuskulatur, war
dem Klavierhimmel plötzlich verdammt nah, so nah wie nur möglich. Und das über
viele Jahrzehnte in immer feineren, klügeren, treffenderen Interpretationen.
Bei aller Subtilität seines Klavierspiels war für Brendel
das Ernste nur zusammen mit Humor zu haben. Er hat das Derbe an Schuberts zelebriert, er hat die freche Komik von Beethovens lange als
etwas seltsam angesehenen – wohl als Erster
herausgearbeitet; auch dieses Werk verdankt Brendel seine späte
Wiederentdeckung. In seinen zahlreichen Interviews und Vorträgen hat er
erklärt, wie wichtig ihm der Witz als Kontrapunkt war, Pathetiker und Tragiker zog er gerne durch den Kakao.