Ein Kontinent, auf dem man sich ohne Pässe bewegt

Oft geht es mir so, wenn ich in einem Konzert sitze, besonders in einer Philharmonie, dass ich für einen oder zwei Momente glaube, der Anfang einer besseren Welt sei gemacht. Tausend, zweitausend, dreitausend Menschen lauschen einer hochdifferenzierten Musik, und sie tun es so gebannt, dass schon ein einzelnes Hüsterchen stört. Im Orchester fügen sich die einzelnen Töne zu einem gewaltigen Klang und bleibt dennoch jedes Instrument unterscheidbar und individuell. Und dann die Musiker: In den meisten Städten stammen sie heute aus aller Welt und führen in ihrem Zusammenspiel vor, dass die Vereinten Nationen doch möglich sind. Wie viel Virtuosität, Übung, Konzentration sich in einem Konzert verdichten, wie viele Stunden, Jahre, Jahrzehnte der Hingabe, Entsagung und Disziplin, aber auch der Glückseligkeit, die jeder einzelne Musiker mit seinem Instrument gehabt haben wird. Und was für Wunderwerke auch die Gebäude sind, in denen ohne elektrische Verstärkung noch das Knarzen der Geige bis in die hintersten Reihen hörbar wird. Allein schon die analoge, also lebendige, brüchige, gerade nicht temperierte Akustik einer Philharmonie ist Erholung und Ohrenschule zugleich, wenn selbst in den Theatern das Mikroport immer häufiger die menschliche Stimme zu einem Soundtrack verquirlt. Der immer gleiche Ablauf, die Gebräuche und wenigen Regeln eines symphonischen Konzerts stiften Gemeinschaft, wo in den Religionen immer weniger auf die Form geachtet wird. Und wenn doch jemand zwischen den Sätzen klatscht, wird ihm das – pssst – natürlich verziehen, weil so ernst die Regeln nun auch wieder nicht sind, nämlich nur ein Spiel.

Viel wichtiger ist: Mit den aufgeführten Stücken wird nicht nur der Geist früherer Generationen lebendig, der Geist ferner Zeiten, fremder Völker oder eines Einzelnen, der wie jeder von uns Mittelpunkt der heutigen Welt ist. Es erklingen darin auch so viele vergebliche Hoffnungen, kollektive Katastrophen und so viel persönlicher Schmerz, dass es mit dem Teufel zugehen müsste, wenn wir durch das Hören nicht auch geläutert wären. Allein mit den Komponisten des heutigen Konzerts werden drei Jahrhunderte gegenwärtig, mit Mozart die Aufbrüche des 18. Jahrhunderts, mit Bruckner die Umwälzungen des 19. Jahrhunderts und mit Thomas Adès unsere nicht mehr, nicht weniger ungerechte und schon dadurch relativierte Gegenwart. Und wie immer Orchester, Dirigent und Solist die Werke interpretieren, sie überführen die Erfahrung anderer ins Hier und Jetzt.

Allein, es geht bekanntlich mit dem Teufel zu. Ich bin beflügelt von der Schönheit, die von Menschen erschaffen worden ist, und schlage mich bereits auf dem Nachhauseweg, aber spätestens am nächsten Morgen wieder mit meinen Alltagssorgen herum. Wir alle fühlen uns wie durch eine elektrische Ladung miteinander verbunden, wenn eine Aufführung gelingt, das Orchester triumphiert und die Musik uns wenigstens für Sekunden, für Minuten in den Bann schlägt, wir sind aus unserer Vereinzelung befreit und, indem wir die Zeit vergessen, sogar von unserer Sterblichkeit erlöst – aber kaum ist das Konzert vorüber, frage ich mich so kurz nach der Landtagswahl, wer von meinen Sitznachbarn zu den 30,6 Prozent Sachsen gehört, die für eine gesichert rechtsradikale Partei gestimmt haben – eine Partei, die Menschen wie mir, meinen Kindern oder auch der halben deutschen Nationalmannschaft freiheraus die Zugehörigkeit zu diesem Land abspricht, wenn sie deutschen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status zuerkennen will. Und vielleicht fragt sich mein Nachbar wiederum, ob nicht auch in mir ein Gewalttäter schlummert, wenn gerade in Solingen erneut ein Muslim, ein Einwanderer wahllos auf Menschen eingestochen hat.

Aber die Musiker, wenigstens sie müssten doch nicht nur friedliche, sondern auch zuversichtliche Zeitgenossen sein, schließlich beschäftigen sie sich tagein, tagaus mit Klängen wie aus einer anderen, einer himmlischen Welt. Doch dann fällt mir ein, dass in der Saison 1941/42, als Deutschland den Kontinent mit Krieg überzog und die Juden zu vernichten begann – dass im Winter 1941/42 kein Orchesterwerk in Deutschland häufiger aufgeführt wurde als ausgerechnet Beethovens mit dem Schlusschor über die Menschen, die alle Brüder werden. Mit den Menschen waren damals ausschließlich Arier gemeint. In Leipzig wurde die Mendelssohnstraße, benannt nach dem großen Sohn der Stadt, Felix Mendelssohn Bartholdy, daher nach Anton Bruckner umbenannt. Umgekehrt weigerten sich während des Ersten Weltkriegs Mitglieder des Gewandhauschores, an einer Aufführung der mitzuwirken, weil ihnen der Schillersche Verbrüderungsgedanke angesichts von Franzosen und Engländern skandalös erschien.

Und die Komponisten selbst? Richard Wagner – ein weiterer unter den vielen bedeutenden Komponisten, die Leipzig hervorgebracht hat –, Richard Wagner war bekanntlich ein widerlicher Antisemit, und selbst Beethoven, der Humanist, soll als Privatperson alles andere als angenehm gewesen sein. Nein, Musik macht keine besseren Menschen aus uns, und wenn sie in den Dienst einer Ideologie, eines politischen Projekts gestellt wird, kann sie sogar umschlagen in schwarze Magie. Auch die Demokratie wird nicht gerettet werden, indem man Bruckner oder Mozart zu Hilfe nimmt. Adolf Hitler sprach gern über die 270 Opernhäuser im Deutschen Reich und hielt die Amerikaner für Barbaren, weil sie ihre einzige Oper geschlossen hätten. In gewisser Weise ist ein „Demokratie-Konzert“ sogar ein Widerspruch in sich. Denn demokratisch ist ein Orchester nun gerade nicht. Vielleicht wird über den Betriebsausflug abgestimmt, aber in künstlerischen Angelegenheiten herrscht die denkbar strengste Hierarchie. Ja, Kunst wäre erledigt, sie wäre zur Ware degradiert oder zur Soziokultur entleert, würde sie dem Mehrheitsprinzip folgen.

Wenn Musik die Demokratie befördert, also gesellschaftlich nützlich ist, dann allenfalls darin, dass sie sich aller Nützlichkeit entzieht. Sie schafft einen Raum, in dem sich die Herzen öffnen, weil es um Worte nicht mehr geht. In den besten Momenten sind mein Sitznachbar und ich, zwei Wildfremde, politisch womöglich sogar Feinde – in den besten Momenten sind wir dennoch in der Begeisterung für dieselbe Musik vereint. Das utopische Moment, das in dieser ästhetischen Brüderlichkeit aufscheint, wäre sofort verwirkt, wenn man es politisch versteht. Wir gehen auseinander, das Einwandererkind und der Wähler der AfD, und glauben jeder, dass der andere eine Bedrohung ist.

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