Zunächst ist da dieser schillernd aktuelle Titel: . Der Band erscheint gerade, wo so viele Menschen irgendwohin zurückwollen, um dort zu finden, was vielleicht ein -Gefühl herstellen könnte. Versprechen einer fossilen Moderne also, Zukunftsoptimismus, Freiheit von Sorgen und stete Steigerung des Erlebniskonsums. Das Gefühl verfängt, weil der Vergangenheit Harmonie und Einfachheit der Umstände angedichtet werden, in denen zwar ein Maß Überheblichkeit und etwas Rassismus eingepreist sind, aber alle Konsequenzen wohlig ausgeblendet werden. Das Bild auf dem Umschlag zeigt einen Mann, der weit hinauf auf eine Laterne geklettert ist, vielleicht für eine bessere Übersicht, vielleicht für etwas Ruhe im Gewusel der Stadt, jedenfalls nach oben.
Man kann die Gedanken der Kulturtheoretikerin Svetlana Boym dazunehmen, sie liest Nostalgie nicht nur retrospektiv, sondern auch als nach vorn gerichtet: Demnach enthält Heimweh nach einer vorgestellten, verkitschten, übermäßig heftigen und in jeder Form reduziert erinnerten Vergangenheit auch immer die Würzmischung dessen, was man sich von der Zukunft erhofft.
Dann aber offenbart gar keinen nostalgischen Gehalt: Die Sammlung ist von den ersten Aufnahmen an ein Empathie-Strom – spielende Kinder in New York, die Armut der späten 1950er-Jahre, Männer mit Hüten in einem Liquor Store, immer auf Augenhöhe fotografiert. Die Bilderserie ist das Ergebnis einer vermutlich abschließenden Tiefenbohrung, die der Fotograf Bruce Davidson in seinem eigenen Archiv unternimmt. Trotzdem ist Svetlana Boym, geboren in der UdSSR, Ende der 1970er in die USA ausgewandert, eine interessante theoretische Wegbegleiterin: Auch wenn sie Nostalgie als kollektives Muster den postsozialistischen Gesellschaften attestierte, kann man ihre These auf Großmächte verallgemeinern, die in Krisen rutschen. Der verklärte Rückblick wird besonders gern von sozialen Gruppen im Mund geführt, wenn deren ritualisierte Vormachtstellung angezweifelt wird.
Kein Fotograf des Augenblicks
Bruce Davidson, geboren 1933 in einem Vorort von Chicago, hantierte schon als Zehnjähriger mit einer Kamera, wurde von seinem Stiefvater ermuntert, studierte dann erst am Rochester Institute of Technology, wechselte an die Yale University. Ihm gelang es 1955, seinen Fotoessay über Erkundungen aus den Umkleidekabinen der Footballmannschaft der Universität im Magazin unterzubringen. Nachdem er Josef Albers einige Aufnahmen von Alkoholikern gezeigt hatte, ermahnte der ihn, „sentimentale“ Bilder wegzuschmeißen und sein Seminar zu Malerei und Farben zu besuchen. Weiter kam Davidson bei Albers nicht: Nach einem Semester musste er zum Militär.
Dort half ihm wohl die -Serie zu einem entspannten Fotografenposten und einer Stationierung in Paris: Hier knüpfte er Kontakte zu Henri Cartier-Bresson. Zur Agentur Magnum kam er etwas später. Cartier-Bresson, erzählte der damals schon 85-jährige Davidson 2019 dem , lief in New York auf der 5th Avenue herum, Davidson erkannte ihn wieder und tippte ihm auf die Schulter. Er solle mitkommen, ein paar Leute von Magnum kennenlernen, begrüßte ihn Cartier-Bresson. Zwei Jahre zuvor hatte Davidson die Wiederbegegnung in einem Gespräch mit dem als Anfang seiner Karriere zusammengefasst. „Und meines Lebens in der Fotografie.“
Dabei wird in seinem Werk schnell deutlich, dass Davidson eher kein Fotograf des „entscheidenden Augenblicks“ ist, den Cartier-Bresson populär machte. Kein unsichtbarer Dokumentar eines Moments, der sich wieder zurückzieht, für den Bewegungen kurz mit Spiegelungen, Licht und Linien im Mauerwerk zu einer Komposition gerinnen. Davidson blieb gerne länger dabei und entwickelte die Haltung eines teilnehmenden Beobachters, der, zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine durchaus umstrittene Ästhetik, seine Protagonisten gewissermaßen die vierte Wand durchbrechen lässt.
Auch im Auftakt zu geht ein Pärchen über einen Platz, es ist eine Aufnahme aus der Zirkusserie, Anfang der 1960er-Jahre. Im Zentrum steht eigentlich die viele Arbeit, die ein beinahe archaisches Unternehmen wie ein Zirkus bedeutet. Und der kleinwüchsige Clown Jimmy Armstrong. Das Pärchen huscht nur so an Davidson vorbei, sie halten sich an den Händen, er will schon weiter, eine Schachtel Süßigkeiten in der Linken, es zieht ihn aus dem Bildausschnitt. Sie läuft einen Schritt hinterher, schaut geradewegs in die Kamera, die Haare, zurückgehalten von einem weißen Band, legen sich wie eine Topfpflanze um ihr Gesicht. In dem ringt Erstaunen mit Selbstbewusstsein, mündet in einen geraden Blick, der sich durch die Kameralinse zu bohren scheint. Sie fixiert uns.
Damit bricht Davidson mit dem Mythos vom unsichtbaren Dokumentar, er hat ein Gespräch eröffnet, einen Austausch auf gleicher Ebene. Das nimmt auf den nächsten Seiten Gestalt an: Davidson begleitete den Zirkus und Armstrong über Monate, fing dessen melancholische Poesie ein, ohne sie selbst herzustellen. Später porträtiert er campierende Frauen im Yosemite-Park. Komplett mit hochtoupierter Frisur und einem großen Auto, das direkt neben dem Zelt parkt, einem Tisch voller Segnungen der Zivilisation, die Tage im Wald komfortabel machen sollen. Auch sie schauen uns geradewegs an. Davidson wartete auf Momente, in denen ihn Menschen zuließen, hinein in ihr Leben nahmen.
Das Konzept des entscheidenden Augenblicks sei ihm nie ganz klar gewesen, erzählte er . Vielmehr dachte er seine Arbeit früh als Serien, verbrachte viel Zeit mit Menschen, die er abbildete, verdichtete Stimmungen in Reihen von Aufnahmen. Für ihn sei deshalb der entscheidende Moment eher eine Einstellung, eine Haltung. Wenn man entschlossen ins Leben ginge, würden die Momente erscheinen, solange man eben aufmerksam sei. „Es geht also wirklich um eine Art, das Leben zu betrachten.“