Den Anfang machte Meolie Jauch am 19. Dezember.
Via Instagram teilte die Kunstturnerin vom MTV Stuttgart kurz vor Weihnachten ihr frühes Karriere-Ende mit: „Ich höre auf meine innere Stimme und beende den Leistungssport. Nicht, weil ich nicht mehr kämpfen will oder mein Körper nicht mehr mitmacht, sondern weil es mental nicht mehr geht.“
Die Jugend-Europameisterin von 2022 ist 17 Jahre alt. Sie trainierte am Kunst-Turn-Forum (KTF) in Stuttgart.
In den Tagen nach Jauchs Post wurde der Deutsche Turner-Bund (DTB), der Schwäbische Turnerbund (STB) und das KTF von einer unfassbaren Lawine aus Anklagen überrollt.
Der Turn-Skandal in Stuttgart
Erst waren es ehemalige Spitzen-Turnerinnen, die nachzogen, inzwischen melden sich auch aktive Turnerinnen zu Wort. Alle prangern die Zustände im deutschen Kunstturnen an – und immer wieder geht es um Vorwürfe gegen das Stuttgarter KTF und dort tätige Trainer.
Auch Tabea Alt (24), Teilnehmerin an den Olympischen Spielen 2016 in Rio, trainierte in Stuttgart – und auch sie packte rigoros aus. Bei Instagram schrieb sie: „In all diesen Jahren hat man meine Gesundheit ganz GEZIELT aufs Spiel gesetzt, in dem man ärztliche VORGABEN missachtete und mich selbst mit mehreren FRAKTUREN (Knochenbrüchen) turnen ließ und in den Wettkampf schickte.“
Alt weiter: „Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen und Demütigungen waren an der Tagesordnung. Heute weiß ich, es war systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch.“
Sie schrieb auch, dass sie vor drei Jahren einen „ausführlichen Brief an meine Heimtrainer, die Bundestrainerin, den DTB-Präsidenten, den Teamarzt und an weitere Verantwortliche“ geschrieben habe.
Darin habe sie am Beispiel ihrer eigenen Laufbahn die Probleme „klar benannt und bekannt gemacht“, um „junge Talente vor den Fehlern, die bei mir gemacht wurden, zu schützen“.
Gebracht habe es nichts: „Ich musste mit Bedauern feststellen, dass es erfolglos war und zu nichts geführt hat. Es wurde ignoriert oder einfach nicht ernst genommen.“
Alts Brief aus dem Jahr 2021 reichte offensichtlich nicht. Die Ex-Turnerin Michelle Timm (27) schrieb im Herbst 2024 die Verbände an und nach Weihnachten auch auf Instagram. Sie berichtete von „Drohungen in jeglichen Kontexten, Verweisungen der Halle aus sinnlosen Gründen, psychischem Unterdrucksetzen und dem Drohen damit, dass man nie wieder gut schlafen könne, ohne schlecht zu träumen.“
Timm, die heute als Übungsleiterin am KTF in Stuttgart arbeitet, veröffentlichte in Teilen ihr Schreiben an DTB-Vorstand Thomas Gutekunst.
Auch Kim Bui (35, früher MTV Stuttgart), die 2022 dem Leistungssport den Rücken kehrte und seit August 2024 Mitglied der IOC-Athletenkommission ist, hat die Negativ-Erlebnisse ihrer sportlich erfolgreichen Laufbahn in dem Buch „45 Sekunden“ verarbeitet. Darin beschreibt sie Essstörungen, unter denen sie während ihrer Karriere litt.
Wie wenig sich durch ihr Buch im Turnsport offensichtlich veränderte, zeigte Lara Hinsberger (20) auf. Sie stammt aus dem Saarland, seit 2018 trainierte sie am Bundesstützpunkt in Stuttgart.
Hinsberger: „Ich hörte auf zu essen und weinte jedes Mal, wenn ich in den Zug nach Stuttgart steigen musste. Ich turnte die deutschen Meisterschaften 2019 mit einem Gewicht von 37 Kilo bei einer Größe von 1,60 Metern.“
Kurz nach diesem Wettkampf wurden bei ihr Anorexia Nervosa (Magersucht) und Depressionen festgestellt: „Ich war damals 14 Jahre alt. In Stuttgart wurde ich behandelt wie ein Gegenstand. Ich wurde benutzt, und das so lange, bis ich körperlich und geistig so kaputt war, dass ich für die Trainer sämtlichen Wert verlor. Seit meiner Zeit in Stuttgart bin ich in psychotherapeutischer Behandlung.“
Dies sind nur Auszüge dessen, was viele deutsche Kunstturnerinnen seit über zwei Wochen an die Öffentlichkeit bringen. Was alle eint, ist der Wille, für nachhaltige Veränderungen in ihrem Sport zu sorgen.
Mit Veränderungen tun sich die Verbände aber offensichtlich (noch) schwer. Der DTB reagierte am 31. Dezember mit einem Statement, dessen Inhalt vielen Athletinnen sauer aufstieß.
In Bezug auf den Brief von Tabea Alt und die Hinweise von Michelle Timm teilte der DTB mit: „Gleichzeitig versichern wir nachdrücklich, dass sämtliche Beschwerden und Hinweise ernst genommen und ihnen nachgegangen wurden und dies auch in Zukunft geschehen wird. Wir bedauern sehr, dass dies insbesondere bei den betroffenen Turnerinnen teilweise gänzlich anders wahrgenommen wird.“
Nach dem Motto: „Wir haben ja was unternommen, nur ihr habt es nicht richtig verstanden.“ Michelle Timm zu BILD: „Dieser Teil des Statements hat uns entsetzt.“
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und das Kultusministerium Baden-Württemberg haben derweil eine genaue Aufarbeitung gefordert.
Die Vorwürfe seien „besorgniserregend“, teilte der DOSB mit. Man habe den Deutschen Turner-Bund (DTB) und den Schwäbischen Turnerbund (STB) gebeten, in die angekündigte Selbstüberprüfung und Aufarbeitung der Vorwürfe einbezogen zu werden.
Mit dem STB sei ein Gespräch vereinbart worden, heißt aus dem Ministerium in Stuttgart: „Die unverrückbare Prämisse der Landesförderung ist, dass internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht über der körperlichen und psychischen Unversehrtheit der Athletinnen und Athleten stehen darf. Verstoßen Sportorganisationen gegen diesen Grundsatz, können Landesmittel zurückgefordert werden.“
Immerhin kam es zu Jahresbeginn zu personellen Konsequenzen, initiert durch die unter Dauerfeuer stehenden Turnverbände. „Um den Trainingsbetrieb sicherzustellen, werden sowohl Bundestrainer Gerben Wiersma als auch Nachwuchsbundestrainerin Claudia Schunk ab dem 7. Januar in Stuttgart Trainingseinsätze übernehmen“, teilte der Schwäbische Turnerbund mit.
Der Niederländer Gerben Wiersma gilt allerdings als vorbelastet. Er war Trainer zuvor der niederländischen Frauen-Nationalmannschaft. Im Juli 2021 wurden gegen mehrere Trainer in den Niederlanden Vorwürfe wegen körperlichen und emotionalen Missbrauchs in den Jahren vor 2011 erhoben. Dazu zählte auch Wiersma.
Im Oktober 2021 wurde Wiersma vom niederländischen Sportgerichtshof schuldig gesprochen. Da er vorher vom Traineramt zurücktrat, blieb er straffrei.
2022 wurde er Bundestrainer der deutschen Kunstturnerinnen. In niederländischen Medien wurde Wiersma zitiert, dass er einer der Initiatoren eines kulturellen Wandels im Turnen gewesen sei.
Auf einen solchen Wandel wartet man besonders in Stuttgart bislang vergeblich …