Wenn Sie heutzutage außerhalb der Reichweite des Gesetzes schnell reich werden wollen, brauchen Sie nur ein Notebook und ein Textprogramm. Damit schreiben Sie Rechnungen über Leistungen, die es nicht gibt und lassen sich bei Ihrem Finanzamt die darin ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer erstatten. Idealerweise machen Sie das gleichzeitig bei mehreren Finanzämtern – und am besten auch in mehreren Bundesländern und EU-Staaten.
Diese Handlungsempfehlung erhielt ich von meinem Umsatzsteuer-Dozenten an einer Fachhochschule für Steuerrecht zu Beginn der 2000er-Jahre. Leider hat sie weder an Gültigkeit noch an Aktualität verloren. Bis zu 60 Milliarden Euro Umsatzsteuer entgehen in der EU jährlich durch das beschriebene Betrugsmodell, genannt Umsatzsteuer-Karussell. Dagegen wirkt Cum-Ex, dessen Ausmaße noch immer in zahlreichen Gerichtsverfahren aufgearbeitet werden, mit circa 36 Milliarden Euro zu Unrecht erstatteter Kapitalertragsteuern fast wie Peanuts.
Die Frage, die man sich unweigerlich stellt: Wie können wir künftig vermeiden, dass aus den immer klammer werdenden Staatshaushalten derartig gewaltige Beträge in die Taschen krimineller Banden abfließen? Im Kleinen kann man kaum tricksen. Gleichzeitig hinterziehen organisierte Strukturen unbemerkt Milliarden.
Wer bei der Einkommensteuererklärung jedes Jahr wieder mit sich ringt, vielleicht für die Fahrten ins Büro zwei oder drei Kilometer zusätzlich anzusetzen, sei gewarnt: Die Einkommensteuerveranlagung von Arbeitnehmern ist ein automatisierter Prozess mit umfangreichen datenbasierten Risikoanalysen. Dazu gehören der Abgleich mit den Erklärungsdaten aus den Vorjahren und Analysen, die auf statischen Verteilungen basieren und Ausreißer schnell als Prüffall identifizieren.
Doch was im Kleinen funktioniert, versagt im Großen – genauer gesagt, bei den Großen. Wie das sein kann? Die Antwort ist einfach: Kriminelle Banden halten sich nicht an Standardprozesse in den Finanzämtern. Sie kennen die Prüfmethoden und Risikoanalysen und wissen, diese auszuhebeln.
Keine Anwendung bei Amazon, Temu & Co.
Ende 2023 machte die für sämtliche E-Commerce-Unternehmen aus China zuständige Berliner Finanzverwaltung öffentlich: Es gab seit 2019 einen einzigen Haftungsfall gegenüber einem elektronischen Marktplatz. Die daraus erhobene Steuer belief sich auf 1.640 Euro und 50 Cent. Und das, obwohl die großen Plattformen wie Amazon, Temu & Co. für die Umsatzsteuer haften, die die auf ihnen tätigen Onlinehändler zurückhalten.
Der Grund ist so einfach wie erschreckend: Das mit viel Aufwand gegen den Steuerbetrug im E-Commerce eingeführte Gesetz wird durch die Finanzverwaltung schlicht nicht angewendet. Es gibt ein Vollzugsdefizit. Jedes Finanzamt hat seit 2019 zwar die Möglichkeit, Transaktionsdaten im E-Commerce von den elektronischen Gatekeepern abzurufen. In der Praxis passiert das aber kaum. Betriebsprüfer und Steuerfahnder befinden sich weitgehend im Blindflug und suchen mit veralteten Werkzeugen nach der Nadel im Heuhaufen.
Während wir also auf Ebene der Arbeitnehmer vom gläsernen Steuerbürger sprechen, fehlen den zuständigen Finanzämtern Daten und für sie zugängliche Datenbanken, um den gewerbsmäßigen Steuerbetrug effizient zu lokalisieren. Der Cum-Ex-Betrug wäre im Keim erstickt worden, hätte die Finanzverwaltung damals die erstattete Kapitalertragsteuer auf Dividenden zentral in einer Datenbank erfasst und entsprechende Risikoprozesse – vergleichbar mit denen bei Arbeitnehmern – eingeführt. Die Daten sind da, sie müssen endlich auch genutzt werden.
Zusätzlich braucht es Finanzbeamte, die diese Daten effizient auswerten können. Die sind Mangelware, denn die oftmals dogmatische Ausbildung und das Studium in der Finanzverwaltung unterscheidet sich nicht von dem zu Beginn der 2000er-Jahre. Daher überlebt seit fast dreißig Jahren ein Betrugsmodell, das schnellen Reichtum verspricht und ein zeitloser Klassiker sowie Gegenstand von Vorlesungen an den Ausbildungsstätten geworden ist.
Roger Gothmann ist Co-Gründer und Geschäftsführer des Steuer-Software-Entwicklers Taxdoo in Hamburg. Zuvor war er mehr als zehn Jahre als Betriebsprüfer und Finanzbeamter beim Bundeszentralamt für Steuern tätig.