Die zitternde Front

„Wir wissen alle, dass ich kein militärisches Geheimnis verrate, wenn ich sage, dass unsere Front eingebrochen ist.“ Das sagte am Dienstag Generalmajor Dmytro Martschenko, ein Kommandeur, der in der Ukraine durch seine erfolgreiche Verteidigung südlicher Gebiete zu Kriegsbeginn bekannt geworden ist. Sein Satz über die derzeitige Lage an der Front führte bei russischen Militärbloggern zu Häme, unter ukrainischen Beobachtern zu Beunruhigung – und Kritik. 

Denn ein wirklicher russischer Durchbruch ereignete sich weder am Dienstag noch in den Tagen, Wochen und Monaten davor: Bedrohte Städte wie Pokrowsk, Tschassiw Jar und Kupjansk sind weiter unter ukrainischer Kontrolle. Russlands Geländegewinn in 13 Monaten der Offensive in der ostukrainischen Region Donezk beträgt weniger als 0,4 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets. Aber sie kostete Russland ein Drittel aller seiner bisherigen Verluste im Krieg.

Nicht zu übersehen ist aber: Die Front mag zwar nicht zusammengebrochen sein,
aber sie zittert. Mit fast 220 eroberten Quadratkilometern in der
letzten Oktoberwoche hat Russland fast doppelt so viel Gebiet einnehmen
können wie in der Vorwoche – und viermal so viel wie in der Woche davor.
Aus russischer Sicht war der Oktober der erfolgreichste Monat seit dem Juli 2022.

Der russische Vormarsch beschleunigt sich, der Großteil davon entfällt auf einen mehr als 70 Kilometer breiten Frontabschnitt im Westen der Region Donezk. Dort marschieren russische Truppen seit Monaten auf Pokrowsk zu. Die Stadt bleibt aber unter ukrainischer Kontrolle, ihr Abstand zur Front hat sich zuletzt kaum verändert.

Über die Dynamik in dem Frontabschnitt täuscht dies allerdings hinweg. Denn die russische Armee konzentrierte sich in den vergangenen Wochen nicht auf einen Vorstoß Richtung Pokrowsk. Ihr Fokus lag darauf, ihre Flanken südlich der Stadt zu sichern und eine stabile Front zu schaffen. Die ukrainischen Einheiten zwang sie dabei immer wieder zum Rückzug – zuerst aus dem fast seit Kriegsbeginn umkämpften Wuhledar, später in viel größerem Tempo aus Selydowe. Mit einer Vorkriegsbevölkerung von 20.000 Menschen ist Selydowe die größte Stadt seit Awdijiwka im Februar, die an Russland fällt. 

Nach Einschätzung
des ukrainischen Militärbeobachters und Ex-Offizier Kostjantyn Maschowez konzentriert
sich fast ein Drittel des russischen Kontingents an
der Front mit 120.000 Soldaten auf das Gebiet südlich von Pokrowsk. Derzeit seien
sie in zwei fast gleich große Heeresgruppen aufgeteilt, von denen eine
versuche, die Stadt Kurachowe einzunehmen, sagt Maschowez. Durch den russischen
Vorstoß östlich von ihr und den Verlust des südlicher liegenden Wuhledar
gerät die Stadt immer mehr in Gefahr, eingekreist zu werden. 

Sobald das
passiert, könnten beide Heeresgruppen auf die aus logistischen Gründen wichtige Stadt Pokrowsk
marschieren. Der finnische Militärexperte und Gründer des Analystenteams Black Bird Group Emil Kastehelmi nimmt zwar an,
dass Russland zunächst Andrijiwka westlich von Kurachowe einnehmen
wollen wird. Doch spätestens dann wird die Front begradigt sein, der Weg
nach Pokrowsk wäre dann frei. „Die Gesamtsituation“, schreibt Kastehelmi,
„ist sehr besorgniserregend, und die Ukrainer sind überdehnt.“

Generalmajor Martschenko nennt in seiner düsteren Einschätzung auch mehrere Gründe für die russischen Erfolge. Darunter: Soldatenmangel auf ukrainischer Seite und die Erschöpfung der dort stehenden Truppen. Die exilrussische Beobachtergruppe CIT sieht darin sogar den Grund, aus dem Russlands über lange Zeit geradezu schleichender Vormarsch derartig an Tempo gewonnen hat. Durch den Mangel habe eine bisher erfolgreiche Verteidigungstaktik der Ukraine an Effizienz verloren.

„Entgegen unseren Erwartungen erobern die russischen Kräfte große Städte (…) deutlich schneller als kleine Siedlungen“, schreibt die Gruppe. Normalerweise seien dicht bebaute Gebiete mit Befestigungsanlagen vergleichbar. Doch Befestigungen nutzten wenig, wenn dort Soldaten fehlten. Russische Truppen, die im Stadtkampf bisher durch ukrainischen Beschuss gefährdet gewesen seien, könnten sich dort schnell fortbewegen und ukrainische Stellungen leicht umgehen. 

Der Einsatz von Drohnen sei zudem in bebautem Gebiet erschwert – „und je größer die Stadt ist, desto deutlicher zeigt sich dieses Problem“. Bestätigt sieht sich das Beobachterteam durch die ukrainischen Rückzugsgefechte an einer anderen Stelle der Front: In der Stadt Torezk zeigten Videos zuletzt, wie die Ukraine Gebäude sprengt, weil sie den russischen Soldaten den Vormarsch erleichterten.

Wie weit es die russischen Truppen in den kommenden Wochen noch schaffen, ist derzeit nicht abzusehen. Wie die Ukraine den Trend wieder drehen könnte, auch nicht. Generalmajor Martschenko kritisiert auch die Militärführung in Kyjiw: Würde die Entscheidung bei ihm liegen, die „am besten vorbereiteten, stärksten Brigaden“ in der russischen Grenzregion Kursk fremdes Gebiet besetzen zu lassen oder ukrainische Städte in Donezk zu verteidigen, sagte er, dann läge die Antwort auf der Hand.



Das Zitat: Eine eindringliche Warnung

Kyjiw, Tschernihiw, Sumy, Charkiw, Saporischschja, Cherson, Mykolajiw: In diese ukrainischen Regionen sind bei Kriegsbeginn russische Truppen eingefallen – zusätzlich zu den seit 2014 teils besetzten Gebieten Luhansk und Donezk sowie der Krim. In den nordukrainischen Regionen wurde das russische Militär geschlagen, später auch aus Charkiw größtenteils verdrängt. Eine Region, die bislang von keinem russischen Soldaten betreten wurde, ist Dnipropetrowsk um die Industriestadt Dnipro herum. Dort lebten vor dem Krieg fast eine Million Einwohner.

Doch die Sorge, dass erstmals seit Februar 2022 auch neue Gebiete angegriffen werden könnten, wird mit dem russischen Vormarsch in Donezk stärker. Nun warnte Maksym Schorin, der Vizekommandeur der als Eliteverband geltenden 3. Separaten Sturmbrigade:

Die Südostspitze der Region Dnipropetrowsk ist knapp zehn Kilometer von dem nächsten Frontabschnitt entfernt. Der Abstand zur Hauptfront bei Pokrowsk beträgt sogar mehr als 25 Kilometer. Doch vor Beginn der dortigen russischen Offensive im Oktober 2023 waren es 50.


Die wichtigste Meldung: Verdreifachte Mobilmachung?

160.000 weitere Männer will die Ukraine mobilisieren. Das kündigte Oleksandr Lytwynenko, Sekretär des Sicherheitsrats, im Parlament an. Bemerkenswerter als die Zahl ist der Zeitraum, in dem das angeblich geschehen soll: Die Männer sollen innerhalb von nur drei Monaten eingezogen werden. Das berichtet die Nachrichtenagentur AFP unter Verweis auf Sicherheitskreise.

Nach der Mobilmachungsreform im Frühjahr konnte die Ukraine gleichzeitig bis zu 35.000 Rekruten ausbilden. Doch inzwischen ist die Zahl wieder erheblich gesunken: 20.000 sind es nach Angaben eines Vertreter des Generalstabs Mitte Oktober. Ein Ziel von 160.000 binnen eines Quartals würde also fast einer Verdreifachung gleichkommen. Im Juni war noch von 120.000 neuen Soldaten die Rede – für das ganze Jahr.

Neben den organisatorischen Schwierigkeiten sorgt die Mobilmachung für gesellschaftliche Spannungen, etwa durch
das Abfangen von Männern vor Konzerthallen oder
Einkaufszentren. Soldaten stellen dem gegenüber, dass eine gerechte Mobilmachung eben so aussehe: Auch in Großstädten wird
mobilisiert, nicht nur unter den Männern auf dem Land, die weniger Mittel und Kontakte haben.

Die Frage der Gerechtigkeit ist mit der Mobilmachung ohnehin untrennbar verbunden. Dabei geht es nicht nur um Korruptionsskandale von Beamten, die mit dem Verkauf von Untauglichkeitsbescheinigungen reich wurden. Sondern auch um die Situation von Soldaten, die seit Jahren nicht abgelöst werden können. 

Die Zahl der Menschen, die als systemrelevant eingestuft und dadurch vor der Mobilmachung geschützt sind – wie Mitarbeiter von Rettungsdiensten, Justizorganen und kritischer Infrastruktur – ist nach Regierungsangaben zuletzt auf 900.000 gesenkt worden. Davor waren es 1,6 Millionen. So versucht die Regierung in Kyjiw, das letzte Mittel zu vermeiden, das ihr sonst langfristig bliebe: die Mobilmachung von allen Männern zwischen 18 und 25 Jahren.


Weitere Nachrichten: Russlands Verluste, ein Dementi und Warten auf Kim

  • Die Nato geht von 600.000 russischen Soldaten aus, die seit Kriegsbeginn getötetet und verwundeten wurden. Angaben zu ukrainischen Verlusten machte Generalsekretär Mark Rutte nicht. Westliche Geheimdienste schätzen sie Berichten zufolge als mindestens halb so groß ein.
  • Sowohl die Ukraine als auch die USA gehen davon aus, dass die in der russischen Grenzregion Kursk stationierten nordkoreanischen Truppen schon bald im Kampf eingesetzt werden. Nach US-Angaben soll deren Zahl inzwischen von 3.000 auf 8.000 angewachsen sein.
  • Russland wie auch die Ukraine dementieren einen Bericht der wonach die Kriegsparteien geheime Verhandlungen darüber führen sollen, die jeweilige Energieinfrastruktur nicht mehr anzugreifen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte zuletzt, ein solches Abkommen könne seiner Meinung nach weitere Verhandlungen näherbringen.

Waffenlieferungen und Militärhilfen: Alte Panzer, Sanitätsfahrzeuge, Flugabwehr

  • Kroatien will 30 Kampf- und ebenso viele Schützenpanzer aus sowjetischer Produktion an die Ukraine liefern. Im Gegenzug hilft Deutschland dem EU- und Nato-Land bei der Finanzierung eines Kaufs von 50 modernen Leopard-2-Panzern. Die alten Sowjetpanzer sollen bis zum Jahresende in der Ukraine ankommen.
  • Kanada hat gepanzerte Sanitätsfahrzeuge des Typs ACSV in die Ukraine geliefert. Eine Zahl nannte das kanadische Militär nicht. Im Sommer hatte das Land angekündigt, insgesamt 50 solcher Fahrzeuge bereitstellen zu wollen – über die 39 in der Vergangenheit gelieferten hinaus.
  • Schweden unterstützt die Ukraine mit Militärhilfen im Wert von 63 Millionen Euro. Ein Drittel davon soll der Ukraine helfen, Waffen aus der eigenen Rüstungsindustrie zu kaufen. Der Rest soll laut dem Verteidigungsministerium in Stockholm das Training ukrainischer Soldaten, Kommunikationsausrüstung, Minenräumsysteme und Luft-Luft-Raketen für F-16-Kampfjets finanzieren.
  • Norwegen hat 117 Millionen Euro für die ukrainische Luftverteidigung zugesagt. Laut dem norwegischen Regierungschef Jonas Gahr Støre soll das Geld in die Finanzierung eines neuen Patriot-Flugabwehrsystems für Rumänien fließen, das jüngst ein solches System der Ukraine überlassen hat.

Unterm Radar: Neue Abwehr für immer mehr Drohnen

6.987 Kamikaze-Drohnen hat Russland nach Angaben der Ukraine seit Jahresbeginn eingesetzt – ein Drittel davon allein im vergangenen Monat. Mit 2.023 im Oktober eingesetzten Drohnen sei der Septemberwert von 1.339, der ebenfalls bereits ein Höchststand war, deutlich übertroffen worden, berichtet der Generalstab in Kyjiw.

Dabei erhöht Russland den Einsatz der Drohnen iranischen Typs nicht nur, sondern entwickelt ihn auch technisch weiter, wie das Kyjiwer Forensik-Institut warnt. In Trümmern einer jüngst abgestürzten Drohne wurde nach vorläufigen Erkenntnissen erstmals ein thermobarischer Sprengkopf gefunden. Thermobarische Sprengladungen erzeugen bei der Explosion einen starken Unterdruck, der tödliche Lungenverletzungen und auch in großem Abstand schwere Organschäden verursacht.

Auch die Ukraine hat ihr Vorgehen im Kampf gegen die Drohnen verändert. Mutmaßlich um Flugabwehrmunition zu sparen, setzt das ukrainische Militär zunehmend auf Störsignale. Sie sollen die Drohnen vom Kurs abbringen, bis sie in offenem Gelände abstürzen. Im Oktober seien mehr als ein Drittel der Drohnen so bekämpft worden, teilte das Militär in Kyjiw mit. Einen Monat zuvor lag diese Quote noch bei weniger als zehn Prozent, im August bei weniger als fünf.


Der Ausblick: Das Schweigen der Raketen

Während die Drohnenangriffe Russlands in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen haben, ist der vergangene Großangriff, bei dem neben Drohnen auch Dutzende Raketen und Marschflugkörper eingesetzt wurden, exakt 60 Tage her. Auch die Zahl der insgesamt eingesetzten Raketen, die vereinzelt abgefeuert werden, ist laut ukrainischen Medienberichten gesunken: von 226 im August auf 116 im September und 47 im Oktober.

Für Entspannung sorgt das in der Ukraine nicht: Mit jedem Tag wächst die Erwartung eines solchen Angriffs. Auch der Militärexperte Fabian Hoffmann, der an der Universität Oslo forscht, sagte dem : „Es ist schon eine ganze Weile her, seit wir einen großangelegten Raketenangriff gesehen haben, was mir Sorgen bereitet.“ Man könne nicht ausschließen, dass sich Russland auf eine ganze Welle solcher Angriffe vorbereite und sein Arsenal in der langen Kampfpause auffülle – um dann das ukrainische Energiesystem „innerhalb einer kurzen Zeitspanne“ zu attackieren. Andere Experten mutmaßen, Russland warte einfach auf die Kälte, bis es die Attacken auf die Wärmeversorgung wieder aufnehme.


Über den Tellerrand: Häftlinge im Krieg und die Zerstörung von Wowtschansk

  • : Das Recherchenetzwerk Bellingcat zeigt in Satellitenkarten und Grafiken die weitgehende Zerstörung der Stadt Wowtschansk durch den russischen Einmarsch im Norden Charkiws.
  • : Das exilrussische Investigativmedium hat mit russischen Häftlingen gesprochen, die im Krieg besonders schonungslos eingesetzt werden.
  • : Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat das Ausmaß der nordkoreanischen Zusammenarbeit mit Russland analysiert und stellt dar, wie sie durch Kim Jong Uns Waffenlieferungen ein neues Niveau erreicht.