„Die Würde, mit der Paul starb, war ein Geschenk“

DIE ZEIT: Hallo, Siri Hustvedt! Wie geht es Ihnen?

Siri Hustvedt: Es geht ganz gut. Die Leute fragen mich das ja die ganze Zeit. Wissen Sie – ich trauere um meinen Mann. Aber wie ich jetzt immer zu Freunden sage: Ich bin nicht depressiv. Aber ich habe Angst. Seit er gestorben ist, lese ich die ganze Zeit über Trauer. Ich bin froh, dass ich nicht tieftraurig bin.

ZEIT: Wenn man so viele Jahre eng zusammengelebt hat, ist der andere nach seinem Tod immer noch anwesend? Wie ein Avatar eines früheren Ichs?

Hustvedt: Jeder Tag ist beraubt von seiner Gegenwart. Es ist wie ein Wahrnehmungsdefizit. In diesem Haus, wo ich jetzt sitze und mit Ihnen spreche, haben wir beide 30 Jahre zusammengelebt. Es ist sonderbar. Klar, er ist hier und in mir allgegenwärtig. Aber gleichzeitig ist der Verlust seiner ständigen Anwesenheit total fremd. Die Trauer ist einfach eine große Umorientierung. Eine Neuorientierung in einer neuen Realität.

ZEIT: „Das Blatt Papier kann Verlorenes und Totes auferstehen lassen“, schrieben Sie in einem frühen Essay. Hilft Ihnen das jetzt?

Hustvedt: Wenige Tage nach Pauls Tod habe ich angefangen, über ihn zu schreiben, ein Memoir. Ich schreibe immer noch daran. Es heißt . Ich habe jetzt 120 Seiten. Das war mein erster Impuls.

ZEIT: Haben Sie das bei anderen Toten auch so gemacht?

Hustvedt: Ich erinnere mich, als ich die Nachricht bekam, dass mein Vater gestorben war – er hatte mich zuvor gebeten, seine Grabrede zu halten –, stand ich direkt auf und ging zum Schreibtisch. Und als Pauls Vater starb, sehr plötzlich, er wurde nur 66 Jahre alt, war Pauls erster Impuls, zu schreiben. Über seinen Vater. Einen Roman. die erste Prosaarbeit, die er unter seinem Namen veröffentlichte. Da ist etwas um den Tod, das bei Schriftstellern diesen Impuls auslöst zu schreiben …

ZEIT: Es ist ja eine besondere Gabe, eine Kraft, die Sie in sich tragen. Die Magie des Schreibens.

Hustvedt: Ja. Ich habe gerade darüber nachgedacht: Das Schreiben auf eine leere Seite ist etwas anderes, als mit jemandem persönlich zu sprechen. Da ist etwas mit dieser Seite, dem leeren Raum, was eine Intimität schafft, die es im lebendigen Dialog mit einem Menschen nicht gibt. Ist das nicht lustig?

ZEIT: Eigentlich nicht. Beim Schreiben ist man ja meist allein. Natürlich ist das noch intimer als ein Gespräch zu zweit.

Hustvedt: Stimmt. Aber wenn Sie schreiben, schreiben Sie ja niemals nur für sich selbst. Sie schreiben immer für jemand anderen. Immer. Doch das Schreiben ist auch immer eine Art unwirkliches, erfundenes Gespräch mit jemandem da draußen – aber du weißt nicht, mit wem. Du hoffst nur, dass es einer ist, der all deine Witze und deine Referenzen versteht. Vielleicht existiert diese Person in Wahrheit nicht. Oh, lassen Sie mich das hier zum Verstummen bringen. Es sind die Demokraten …

ZEIT: Da antworten Sie doch wohl besser. Das scheint mir wichtig, so kurz vor der Wahl.

Hustvedt: Oh, ja, die Demokraten sind die ganze Zeit hinter mir her. So, abgestellt.

ZEIT: Können Sie ihnen helfen?

Hustvedt: Klar. Deswegen sind sie ja hinter mir her. Das ist natürlich der andere Grund meiner Angst: die Präsidentschaftswahlen im November.

ZEIT: Wie helfen Sie? Schreiben Sie?

Hustvedt: Na, Geld schicken. Sie wollen Geld. Die Harris-Kampagne scheint eine Menge Geld zu haben … Paul und ich waren beide Mitglied in der Vereinigung „Writers for Democratic Action“. Als er krank wurde, sind wir irgendwann nicht mehr hingegangen. Aber ich gehe jetzt wieder hin. Das ist eine großartige Vereinigung von Schriftstellern, die alles dafür tun, Leute zur Abgabe ihrer Stimme zu bringen.

ZEIT: Sie sind eine eminent politische Autorin, vom Beginn Ihres Schreibens an. Aber haben Sie je eine politische Rede gehalten?

Hustvedt: O ja! Eine! Gleich nachdem Donald Trump gewählt worden war, auf den Treppen vor der New York Public Library. Ich erinnere mich, ich habe alle Kraft und Wut und Energie hineingelegt, die in mir war. „Wir werden nicht weichen!“ Ich habe richtig geschrien. Paul war dabei, und danach sagte er zu mir: „Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich mit Emma Goldman (eine frühe amerikanische Anarchistin und Friedensaktivistin, verheiratet bin!“ Aber ich habe schon als Teenager den „Walk for development“ organisiert, gegen Hunger und Armut in der Welt. Ich bin gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gegangen, ich blicke auf eine lange persönliche Geschichte des Widerstands und des Feminismus zurück.

ZEIT: Wenn sogar Paul Auster so überrascht war von Ihnen als politischer Rednerin – waren Sie selbst es auch?

Hustvedt: Ach, man weiß ja nie so genau, was aus einem rauskommt, wenn man den Mund aufmacht. Und in diesem Fall war es so: Die Autoren, die dort waren, wirkten alle so resigniert und lasen irgendwelche Gedichte vor, und ich dachte nur: Na, also dafür sind wir hier ja wohl nicht zusammengekommen. Wir brauchen ein wirklich kraftvolles Statement. Der sanfte Auftritt der anderen hat diese brüllende Person in mir hervorgebracht. Paul fand es auf jeden Fall lustig. Und ich glaube, er war auch stolz auf mich.

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