„Die Unterstützung für den Krieg hat seit Kursk zugenommen“

ZEIT ONLINE: Vor einigen Tagen äußerte sich Wladimir Putin auf dem Eastern Economic Forum erstmals zur Kursk-Offensive. Er sagte, die Ukraine habe gehofft, dass Russland daraufhin die Kämpfe im Donbass beenden würde, aber das sei nicht geschehen. Krieg um jeden Preis – wie lange wird die russische Bevölkerung da noch mitmachen? 

Lew Gudkow: In der Bevölkerung können wir zwei Tendenzen beobachten. Zum einen distanzieren sich viele von den Ereignissen in Kursk. Das liegt an der Propaganda, die behauptet, dass alles nach Plan läuft, dass es sich um relativ unbedeutende Ereignisse handelt. Die ukrainischen Truppen würden nach und nach abgezogen, es gebe keinen Grund zur Besorgnis. Das Bewusstsein der Menschen für den Krieg nimmt langsam, aber sicher ab. Er ist zur Routine geworden und nur noch das viertwichtigste Thema in der Gesellschaft – nach steigenden Preisen, Korruption und Migrationsproblemen.

ZEIT ONLINE: Trifft das auch auf die Menschen in den direkt vom Krieg betroffenen Regionen zu?  

Gudkow: Dort herrschen ganz andere Prozesse vor. Da ist man einerseits empört über die „Invasion“ der Ukrainer und bereit, sich zu verteidigen. Andererseits reagieren die Menschen mit Panik und großer Unzufriedenheit mit den russischen Behörden. Ende August konnte man feststellen, dass die Reaktionen auf die ukrainische Offensive aggressiver wurden, auch über die betroffenen Regionen hinaus. Im ganzen Land ist etwa die Zahl der Bewerbungen für den Wehrdienst gestiegen. Jeden Tag werden etwa tausend Verträge unterzeichnet, so viele wie nie zuvor. Die Unterstützung für den Krieg hat zugenommen – ebenso wie die Bereitschaft, bis zum Sieg zu kämpfen. Das ist die zweite Tendenz.  

ZEIT ONLINE: Wie blicken die Menschen auf Friedensverhandlungen? 

Gudkow: Die Zahl derjenigen, die sich ein Ende der Feindseligkeiten und die Aufnahme von Friedensgesprächen wünschen, ist im letzten Monat um sieben Prozent gesunken. Dementsprechend mehr meinen, man müsse bis zum Ende kämpfen. Die Menschen sind bereit, die Aufgaben zu übernehmen, die Putin ihnen übertragen hat, ob nun in der Armee oder als Gesellschaft. Gleichzeitig wird im Internet regelmäßig Kritik geäußert.  

ZEIT ONLINE: Was genau wird kritisiert?  

Gudkow: Die Inkompetenz der militärischen Führung, die auf die Offensive nicht vorbereitet war. Und auch die unzureichende Unterstützung durch die örtliche Verwaltung, die keine wirkliche Hilfe bei der Evakuierung von Menschen aus Kampfgebieten leistet. Es fehlt an Lebensmitteln, Unterkünften, Medikamenten, Arbeit. Wir sprechen hier von 150.000 Menschen. Derzeit sind nicht mehr als 20 Prozent von ihnen evakuiert und mit Wohnraum versorgt worden. Der Rest ist seinem Schicksal überlassen. Militärblogger werfen den Generälen Korruption vor und kritisieren Fehlinformationen über die wahre Zahl von Verlusten. Doch fast niemand stellt den Sinn des Krieges infrage.  

ZEIT ONLINE: Wie deutet die russische Bevölkerung diesen Krieg, der doch mit dem Überfall auf die Ukraine begann?   

Gudkow: Viele sind überzeugt, dass der sogenannte ukrainische Faschismus ein für alle Mal zerschlagen werden soll. Dass es keinen Sinn hat, mit den Ukrainern zu verhandeln, weil sie nicht unabhängig sind. Dass der wahre Krieg nicht zwischen Russland und der Ukraine, sondern zwischen Russland und dem Westen als Ganzes stattfindet. In diesem Fall ist die Ukraine nur ein Mittel zum Zweck. Die Befürworter von Verhandlungen verstehen darunter die vollständige Kapitulation der Ukraine. Es gibt keine Moral oder Sensibilität für das, was geschieht. Nur zehn Prozent der Bevölkerung fühlen sich schuldig, die Mehrheit steht loyal zu Putin und seinen Zielen und ist wirklich davon überzeugt, dass der Westen Russland zerstören oder zumindest langfristig schwächen will. Deshalb halten sie Putins Politik für gerechtfertigt.