Die Tränen des KZ-Arztes

Erst
im Jahr 1959 wurde gegen den Kriegsverbrecher und Lagerarzt von Auschwitz,
Josef Mengele, Haftbefehl erlassen. Zu diesem Zeitpunkt hielt er sich in Buenos Aires auf. Aufgrund der beginnenden internationalen Suche tauchte er Anfang der
1960er-Jahre in Paraguay und später in Brasilien unter. Dort ertrank Mengele
1979 an der Küste vor São Paulo nach einem Schlaganfall beim Baden.
Die 34 Jahre, die Mengele nach dem Ende des
Nationalsozialismus lebte, hat der französische Schriftsteller und Journalist
Olivier Guez mit Zeitzeugenaussagen, Gerichts- und Fahndungsakten in seinem
2017 erschienenen Roman rekonstruiert. Schon
zuvor hatte sich Guez mit deutschen Verbrechen und deutscher Verdrängung
auseinandergesetzt, gemeinsam mit dem Regisseur Lars Kraume schrieb er das
Drehbuch zu dessen Politdrama (2015) über den
legendären Frankfurter Staatsanwalt und seine Rolle in den Auschwitzprozessen.

Nun
hat der russische Regisseur Kirill Serebrennikow verfilmt, als Politthriller und Paranoia-Studie. Tiefenscharf sind die Schwarz-Weiß-Bilder seiner Leinwandadaption. Eine der ersten Szenen spielt 1956
in Buenos Aires. Mit Trenchcoat und ins Gesicht gezogenem Hut eilt Mengele,
gespielt von August Diehl, durch belebte Straßen. Mehrmals wirft er den Blick
zurück, steigt hektisch ins Taxi und lässt sich zum Flughafen bringen. Das
Spiel mit Licht und Schatten und der untergründige Jazzsound verleihen Mengele
eine Melancholie und Getriebenheit, er könnte auch eine Figur aus einem US-amerikanischen Film noir der 1940er-Jahre sein. In diesen Einstellungen wird aus
konventionellen Erzählmustern eine Spannung aufgebaut. Die filmische Form drängt
das Publikum auf Mengeles Seite. Obwohl klar ist, um wen es sich hier handelt und
es Männer mit Kippa sind, vor denen Mengele flüchtet. 

Die Perspektive des Täters

Immer
wieder nimmt Serebrennikow die Perspektive des Täters ein, auch erzählerisch.
Er zeigt einen Mörder, der in allen Facetten und Tonlagen die Nazipropaganda
wiederkäut, mal flüsternd, mal predigend, mal vor Wut schreiend. Finanziert von
seiner Unternehmerfamilie in Deutschland, lässt Mengele mit Gleichgesinnten die
Rassenlehre in Buenos Aires weiterleben. In einer prunkvollen Villa heiratet er
auf Wunsch des Vaters (Burghart Klaußner) die Witwe seines verstorbenen
Bruders, auf der Hochzeitstorte prangt ein Hakenkreuz. Später findet Mengele in
Brasilien auf der abgelegenen Farm einer ungarischen Familie Unterschlupf,
deren Schwarze Arbeiter bezeichnet er als „Halbaffen“. Am Ende haust er in einer
abgerissenen Bleibe in einem ärmeren Viertel von São Paulo, weiterhin bezeichnet
er seine Taten an der Rampe des Konzentrationslagers als menschenfreundlichen
Akt. Wechselnde Identitäten, neue Zufluchtsorte – mit Mengele springt die
Handlung zwischen den Jahrzehnten hin und her. Je mehr die Zeit voranschreitet,
desto klarer fühlt er sich als Opfer.

ist ein perfider Film, eine Zumutung für den
Zuschauer – und eine Zumutung für seine Figur. Zu Beginn wird im Jahr 2023 an
einer medizinischen Fakultät in Brasilien ein Skelett untersucht, Krankheiten
und Verletzungen werden anhand von Veränderungen des Knochenbaus
diagnostiziert. Es sind die sterblichen Überreste von Josef Mengele, wie der
Professor den Studierenden erklärt. Der Mann, der in Auschwitz-Birkenau aus
vermeintlich wissenschaftlichen Gründen Experimente an Häftlingen vollzog, ist
nun selbst Untersuchungsobjekt. 

Im Alter wirkt Mengele haltlos und cholerisch

Man
kann Serebrennikows Film ebenfalls als Experiment verstehen, als Versuch, einen
Kriegsverbrecher vorzuführen und zu entblößen. Nach der Skelett-Szene sieht man
den leibhaftigen Mengele nackt vor dem Spiegel stehen, mit Blicken seziert er
seinen Körper auf medizinische Auffälligkeiten. Die Kamera zeigt auch seinen
Penis, als wollte sie daran erinnern, dass der Täter eine Geschlechtlichkeit
hat. Oder will sie provozieren? Auch August Diehl setzt in seiner Darstellung
auf Effekte, er offenbart die nackte Wut eines Gedemütigten, brüllt die
Verachtung für seine Umgebung (vor allem Frauen) heraus, wird zur Inkarnation
eines allumfassenden Zynismus. Im Laufe der Jahre wirkt dieser Mengele – nun
mit ergrauten Haaren und Schnauzbart – zunehmend haltlos und cholerisch. In
Großaufnahme werden seine zittrigen Hände gezeigt, die er als Arzt zu
mörderischen Zwecken einsetzte. Auch ein Kriegsverbrecher, das scheint uns der
Film zu sagen, wird alt.

Mit
diffuser werdenden Schwarz-Weiß-Bildern passt sich Serebrennikows Ästhetik Josef
Mengeles Paranoia an. Nachts erinnert die brasilianische Farm mit dem
Stacheldrahtzaun an ein Lager. Auf einem Turm sucht Mengele mit der
Taschenlampe das Gelände ab, nicht nach Geflohenen, sondern nach seinen
Verfolgern. Der Film zelebriert solche Störfaktoren, die Mengele mit den
Geistern seiner Vergangenheit konfrontieren. Auf seiner Hochzeit in Buenos Aires servieren zwei junge Zwillingsbrüder den Wein. „Zwillingsforschung“
gehörte zu den Interessengebieten des KZ-Arztes.

Hilflose Originalitätsbekundungen

Mit
solchen visuellen Widerhaken gelingt es dem Serebrennikow-Experiment jedoch
nicht, einem Menschheitsverbrecher beizukommen. Sie sind eher hilflose
Originalitätsbekundungen, Augenwischereien, die vor allem die Haltungslosigkeit
des Films bekunden. Für Haltung ist dann Mengeles aus Deutschland angereister
Sohn zuständig.

Rolf,
der Sohn aus erster Ehe, reist mit falschen Papieren nach Brasilien. Er will
wissen, was sein Vater in Auschwitz-Birkenau getan hat. Doch dieser schweigt.
Es ist der Film, der ihm antworten wird. Die Bilder werden farbig, nehmen den
Look eines 16-mm-Homevideos an. Ein Orchester mit Kleinwüchsigen ist zu sehen,
ein lächelnder Josef Mengele selektiert die Menschen an der Rampe. Auch
Untersuchungen im Labor werden gezeigt. Draußen scheint die Sonne, die Männer
in Uniform wirken zufrieden und ausgeruht. Die quälend lange Sequenz wirkt wie
ein monströses Urlaubsvideo. Man kapiert, es war Mengeles beste Zeit. Einmal sieht man ihn als weinendes Häuflein
Elend, das seinen Schäferhund kuschelt. Fast hätte man Mitleid mit ihm.

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