„Die Republik ist nicht am Ende, sie muss nur lernen“

DIE ZEIT: Daniel Cohn-Bendit, kann die französische Republik sich selbst nicht mehr regieren?

Daniel Cohn-Bendit: Schwierig! Doch sie kann sich natürlich selbst regieren. Zum Regieren braucht man ein Parlament, und im Parlament braucht man Mehrheiten, die Gesetze verabschieden können. Die Zeit ist kurz. Am Montag, spätestens, muss der Haushaltsentwurf vom Kabinett verabschiedet werden, damit er am 31. Dezember in Kraft treten kann. Die Republik ist nicht am Ende. Sie muss nur lernen, Mehrheiten zu bilden.

ZEIT: Frankreich ist hoch verschuldet. Ist es überhaupt möglich, in den Parlamenten moderner Industriegesellschaften noch Mehrheiten zu bilden, ohne dauernd neue katastrophale Schulden aufzuhäufen?

Cohn-Bendit: Das Problem ist die Schuldenlast, die Frankreich bereits aufgehäuft hat. In Deutschland hat sogar die CDU verstanden, dass man das Spardiktat auflösen muss, weil das Land ohne Investitionen nicht vorankommt. Frankreich müsste auch dringend investieren, hat aber fast das Doppelte an Schulden. Frankreich ist ein Land, das viel umverteilt, die Sozialabgaben sind hoch. Einer großen Mehrheit, bis zu 80 Prozent der Bevölkerung, geht es eigentlich gut, aber die Angst vor dem Abstieg treibt sie um. Frankreich ist ein ängstliches Land geworden.

ZEIT: Das allein ist aber kein Grund für Unregierbarkeit. Liegen die Blockaden nicht im politischen System Frankreichs?

Cohn-Bendit: Es wird Zeit, die Fünfte Republik zu überwinden, die Charles de Gaulle 1958 ausgerufen hat. Sie war im historischen Moment ihrer Entstehung notwendig geworden, um handlungsfähig zu sein. Für de Gaulle wurde eine Präsidialverfassung geschaffen, um ihn in die Lage zu versetzen, Algerien bei Frankreich zu halten. Paradoxerweise hat er bald darauf eingesehen, dass das nicht geht und hat seine präsidiale Macht stattdessen eingesetzt, um die Entkolonialisierung durchzusetzen.

ZEIT: Was wirkt heute blockierend in der Fünften Republik?

Cohn-Bendit: Die Fünfte Republik lebte von der Idee einer stabilen, absoluten Mehrheit, einem Wahlrecht also mit zwei Wahlgängen – nicht wie in Deutschland, wo die Parteien letztlich ihre Sitze gemäß ihrem Stimmenanteil bei der Wahl bekommen.

ZEIT: Wäre es schwer, das Wahlrecht in Frankreich zu ändern?

Cohn-Bendit: Es ist wichtig zu betonen, dass dieses Wahlrecht nicht Verfassungsrang hat. Die Mütter und Väter der Fünften Republik haben es durch einfache Gesetze geregelt, die man also mit einfacher Mehrheit im Parlament ändern könnte. Wesentlich für die politische Kultur der Fünften Republik war es, dass ein Lager die absolute Mehrheit hat – doch dieses „Ideal“ ist zusammengebrochen, als Emmanuel Macron vor einem Jahr das Parlament wahnwitzigerweise aufgelöst hat. Er wollte eine absolute Mehrheit für sich erzwingen und hat stattdessen die Zersplitterung des Parlaments in fünf verschiedene Blöcke bewirkt. Nun kann die Republik nur noch regiert werden, wenn die politischen Parteien und die gesellschaftlichen Gruppen lernen, Kompromisse zu machen. 

ZEIT: Werden Sie das? Deutschland hat nach 1945 eine demokratische Konsenskultur mühsam erlernt. Der scheidende Premier Lecornu hat allerdings festgestellt: „Wir sind hier nicht in Deutschland …“ Kann Frankreich eine neue Kompromissfähigkeit vielleicht aus Angst vor dem Krieg in Europa und vor der eigenen Schwäche lernen?

Cohn-Bendit: Inschallah! Das wäre richtig und vernünftig. Aber Ängste wirken nicht mobilisierend, sondern sie lähmen. Die Coronapandemie, die so verängstigend war, hat zuerst den Wunsch hervorgetrieben, einfach nur normal leben zu dürfen. Die Linke und die Grünen haben diesen Wunsch nicht verstanden: Lasst uns leben! Das hat aber das rechte Lager in ein Narrativ verwandelt. Es hat mit dem Zauberstab den angstmachenden Klimawandel für inexistent erklärt und behauptet, der angstmachende Putin sei kein Aggressor. Die Kriegsangst sei bloß eingeredet. Und so vermitteln die Rechten das Gefühl, man brauche nichts zu tun und könne einfach normal leben. Das ist auf fruchtbaren Boden gefallen.

ZEIT: Sie selbst sind nicht nur Frankfurter, sondern auch Franzose, gehören dem Staatsvolk an. Artikel 3 der französischen Verfassung hält das Prinzip der Volkssouveränität fest. Wer ist das in Frankreich heute: das Volk?

Cohn-Bendit: Das Volk gibt es nicht. Es gibt verschiedene starke Strömungen, aber keine einheitliche Identität Frankreichs. Es gibt einerseits eine starke Renationalisierung des Denkens in der Illusion, früher sei alles besser gewesen. Auf der Linken wiederum gibt es die Illusion, sie würde das französische Volk repräsentieren, wenn sie mit einer Million Menschen zum Protest auf die Straße geht. Geeint sind alle Strömungen, einschließlich der Arbeitgeber, in ihrer Staatsgläubigkeit. Alle wollen eine Lösung von oben. Aber das ist das nächste Paradox: Gleichzeitig traut die Gesellschaft denen da oben nicht. In diesem Paradox wird man meschugge. 

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