Die Paris Hilton von Bergisch Gladbach

Auf der Bühne steht nicht viel
mehr als ein in rosa Satin gehülltes Bett. Ein Mann liegt auf dem Boden. Eine
bereits angetrocknete Blutlache glänzt im Scheinwerferlicht, und Julia (Alina Stiegler) versucht, die Einzelteile ihrer Seele zusammenzusetzen, zu verstehen, wie sie
in dieses Hotelzimmer gekommen ist. Mit bringt die Regisseurin und Autorin Yana Eva Thönnes die Welt der
Nullerjahre, die unlängst als Y2K-Trend in Mode und Musik ein Revival erlebt
hatte, an die Berliner Schaubühne.

In Rückblenden berichtet Julia
von ihrer traumatischen, von sexuellen Ansprüchen aufgeladene Jugend in den
Nullerjahren. Das war die Zeit, wo der mittlerweile altersmüde gewordene Jugendsender
MTV über Jahre hinweg die Träume von Heranwachsenden prägte: Da wurden Villen
von Stars gezeigt, gern mit Kingsize-Bett, noch lieber mit
Pole-Dance-Stange im Schlafzimmer. Junge Frauen sollten um einen
uhrenbehangenen, alternden Rapper (Flavor Flav) buhlen, indem sie ihm Hühnchen
zubereiteten.
Es war die Zeit, in der Britney Spears sich zu Songzeilen wie
„“ verführerisch räkelte. Und natürlich die Hochzeit des titelgebenden
It-Girls und der angeblichen Erfinderin des Selfies: Paris Hilton.

So ganz war man sich ja nie
sicher, wofür sie eigentlich berühmt war. In
Erinnerung geblieben sind umso mehr ihre Auftritte bei :
Im Duo mit Nicole Richie wurde sie in der amerikanischen Prärie ausgesetzt,
stiefelte in Stilettos durch Kuhscheiße und versuchte, mit einem Bügeleisen
Bacon zu braten.
Bereits in der ersten Folge schauten ihr in den USA 13
Millionen Menschen dabei zu. Kein geringer Teil dürfte kurz darauf auch ein
anderes Video gesehen haben, mit dem etwas plumpen Titel
Das Sextape war von Hiltons damaligem Freund in einer Hotelsuite gefilmt und im
Jahr 2004 gegen Hiltons Willen veröffentlicht worden; für 50 Dollar pro Stück
konnte man die DVD kaufen.

Das geht selbstverständlich im
Stück auch an der Hauptfigur Julia nicht vorbei – womit unweigerlich in Julias Jugend in Bergisch Gladbach angekommen wäre. Mit ihren
Eltern ist Julia damals auf einen Hof gezogen und steht nun vor der Aufgabe, in
der neuen Schule dazuzugehören. Schnell wird sie „eine von den Coolen“. Wegen ihrer
blonden Haare wird sie kurzerhand auf den Namen des It-Girls auf der anderen
Seite des Atlantiks getauft.

Die Pubertät beginnt: Sie bemerkt
die Blicke der Jungen aus ihrer Klasse auf ihren String und lässt ihn noch
etwas weiter aus der Hose blitzen. Zu ihrer Konfirmation trägt sie eine weiße
Miss-Sixty-Hose mit Reißverschluss am Po (ertappte Lacher hallen vereinzelt
durch den Saal in der Schaubühne). Heimlich schleicht sie in ein Kabuff neben dem
Elternschlafzimmer, wo der einzige Computer steht – und damit der Zugang zum
World Wide Web, einer Welt, die, wie es an einer Stelle des Stücks heißt,
realer sein könnte als ihr Leben in Bergisch Gladbach. Auf AOL sucht sie nach
ihrer Namensvetterin. Ewig lang braucht das Internet zum Laden, bis ein Bild
von Paris Hilton erscheint, wie sie sich zwischen Männern mit Waschbrettbäuchen
räkelt. Die ersten Selbsterkundungen ihres Körpers sind bereits popkulturell
überschrieben.

In Erinnerungsfetzen umkreist das
Stück Julias traumatische Erfahrungen, während sie sich auf der Bühne, erzähltechnisch
20 Jahre später, in einem Zimmer der Hilton-Hotelkette, in Zimmer 737, befindet.
Immer wieder tritt das It-Girl, von Ruth Rosenfeld mit beinahe beängstigender
Makellosigkeit gespielt, an sie heran – als Self-Help-Ratgeberin zur
It-Girl-Werdung. In ihrer Jugend übernimmt Julia nicht nur den Namen von Paris,
eifert ihr nach, beinahe unmerklich nähern sich auch ihre Leben einander an –
bis zu einem Sex-Video, in dem Julia mitspielen wird.

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