Es hat eine besondere, schmerzliche Wucht, wenn jemand so urplötzlich die Erde verlässt, dem man gerade noch die Hand gegeben hat. Noch vor wenigen Wochen empfing Günther Uecker in seinem weiträumigen Düsseldorfer Atelier den Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und mich zu einem Gespräch, ein Gespräch, von dem wir heute wissen, dass es sein letztes gewesen ist (ZEIT Nr. 17/25).
Als wir das Atelier betreten, ist es still, sehr still, man erkennt den Künstler erst gar nicht zwischen all den Bergen aus Material, den gereihten alten Bildern, den Aquarellen am Boden, den Maschinen, mit denen er nun, hochbetagt, die Nägel in die Leinwände hämmern kann. Aber sofort spürt man eine besondere Energie, die den ganzen Raum durchdringt. Und dann sieht man Uecker, ruhig und gelassen auf einem alten ausrangierten Konzerthausstuhl sitzend, über dem T-Shirt trägt er einen schwarzen Daunenmantel, weil ihm kalt geworden ist. Aber er strahlt das das Gegenteil aus: Wärme.
Im März war Günther Uecker 95 Jahre alt geworden. Er nahm sich Zeit, viel Zeit, um im Gespräch noch einmal zurückzublicken auf dieses ungeheure Leben. Und je mehr man ihm zuhörte, umso ungeheuerlicher wurde es. Wie konnte dieser Mann nur so vergnügt lächeln – nach all dem, was ihm in seiner Kindheit widerfahren war? Wie konnte er immer wieder aufs Neue an das Gute im Menschen glauben, obwohl er eigentlich zeitlebens immer das Gegenteil erfahren musste? Ja, wir alle können viel lernen von diesem großen Menschen und großen Künstler Günther Uecker.
Er wuchs auf als ungeliebter Sohn auf einem Bauernhof an der Ostsee, der Vater wunderte sich nur, als er seine Zeichnungen sah, und verspottete ihn. Doch als der Vater als Soldat in den Krieg ziehen musste, da übernahm der Junge den Hof, zog den Pflug durch die Äcker und die Kartoffeln aus der Erde. Und als die Russen kamen, weil sie den Hof plündern wollten und seine Mutter und seine Schwester schänden, da hämmerte er alle Fenster des Hauses von innen in wilder Panik mit Holzbrettern zu, eins nach dem anderen. So schützte er sie. So wurde das Vernageln für ihn zu einer Form des Widerstands, der Hammer zu einem Freund.
Doch dann wurden an der Ostsee die Leichen angeschwemmt von den versenkten Flüchtlingsschiffen, und die Russen zwangen den jungen Uecker, die Toten zu begraben im Sand. Auch das tat er – mit dem Spaten. Und aus diesen beiden Urerfahrungen ist dann, sehr viel später, seine archaische Kunst entstanden. Sie ist geboren aus den Schrecken des Jahres 1945, auch darum ist es ist eine zutiefst deutsche Kunst.
Günther Uecker jedoch sprach gar nicht traumatisiert über diese Zeit, sondern warm, ja barmherzig, als würde er die Russen genauso verstehen wie die Deutschen. Er habe nie so viel über den Menschen gelernt wie damals, sagte er – und dann lächelte er, lächelte lange vor sich hin und schien sich vor unseren Augen von dem jungen Bauernsohn von der Küste plötzlich in einen Buddha zu verwandeln. Im Buddhismus erklärt man dieses Lächeln mit der unendlichen Gelassenheit, mit der nur sehr wenige irdische Wesen auf ihr Leben blicken können.
Uecker hat in den letzten Jahrzehnten die fernsten Länder bereist, auch jene, die Diktaturen sind, um ihnen allen seine Kunst und seine frohe Botschaft zu bringen: Die Kunst macht die Menschen nicht besser – aber sie kann den Menschen helfen, eine Ahnung davon zu entwickeln, was das Andere ist, das alles Falsche überwinden hilft.
Seine weltweite Berühmtheit verdankt er einem künstlerischen Werk von großer Originalität – und Konsequenz. Er war früh aus dem Arbeiter-und-Bauern-Staat DDR geflüchtet nach Düsseldorf, allerdings in ein Düsseldorf der Ruinen, er wohnte unter Trümmern in unbeschädigten Kellerräumen, als er an der dortigen Akademie zu studieren begann. Später, von 1974 bis 1995, lehrte er dann selbst an der Düsseldorfer Akademie.
Zuvor, als Student, war er ganz vorn dabei gewesen bei der so zornigen wie heiteren Bewegung, die sich ZERO nannte, die einen ästhetischen Nullpunkt setzen wollte, nachdem viele ihrer Vertreter während des Nationalsozialismus den moralischen Nullpunkt erlebt hatten. Yves Klein träumte am kühnsten und weitesten, er erfand ein ungeheures Blau – und heiratete Ueckers Schwester, obwohl sie Rotraut hieß. Und auch Uecker fing zunächst damit an, die Leinwände nur einfarbig zu bemalen, silbern oder rot oder weiß. Nicht von ungefähr bat er bei unserem Besuch seinen Sohn Jacob, ihm genau diese allerfrühesten Arbeiten aus dem Depot zu holen, er wollte offenbar wieder umgeben sein von seinem eigenen künstlerischen Urknall, als er innerlich spürte, dass er sich selbst bald aufmachen würde in andere, höhere Sphären. Auf Erden hatte er alles erreicht – er hatte sein Leben in Kunst verwandelt, er hatte auf der Documenta ausgestellt (schon 1964) und auf der Biennale von Venedig (schon 1970), in den Jahrzehnten danach war er in allen großen Museen der Welt zu sehen, seine Poesie der Destruktion war einzigartig.
Sein künstlerisches Urerlebnis, das Zunageln des Hofes, erinnerte ihn zeitlebens an die Kraft, die ihm zufloss aus dem Werkzeug des Hammers. Um 1957 in Düsseldorf nahm er das erste Mal wieder den Hammer in die Hand und nahm die Nägel, und er begann sie Stück für Stück in gleißend weiße Leinwände zu schlagen. Er hatte nur eine Latzhose an, so sehr schwitzte er. Seine Kunst war Schwerstarbeit. Aber dann, nach Stunden oder Tagen, in denen er auf eine kaum für möglich gehaltene Art fein säuberlich einen Nagel neben den anderen gepflanzt hatte, gerade so, als handele es sich um zarte, kostbare Keime – da begann der Bildraum plötzlich zu vibrieren. Ja, das kalte Metall der Zimmermannsnägel verwandelte sich unter Ueckers Hammerschlägen. Je weiter man von der Leinwand wegtrat, umso natürlicher erschien einem plötzlich alles, es waren keine Nägel mehr, die sich da über das Bild zogen, sondern Wellen. Und man spürte etwas, das kaum jemand in der Kunst hatte darstellen können – den Wind. Ja, seine Nagelfelder wirkten, als wehe ein unsichtbarer Wind durch ein reifes Ährenfeld. Eigentlich, so sagte er einmal, gehe es ihm ja nur um das Licht. Um die alles verwandelnde Kraft des Lichts. Und wie sie nur durch den Schatten ihre Kraft entfaltet, genau das wolle er zeigen in seinen Nagelfeldern, in denen sich die Sonne bricht.
Wer je vor einem solchen Werk von Uecker stand, kann sich der Magie dieser Verwandlung nicht entziehen. Es ist der sanfte Wind der Ostsee, der über diese Nägel zieht, es ist der tiefe Boden der Felder seiner Heimat, in dem sie verankert sind. Ja, von Uecker lässt sich lernen, was Heimat ist. Immer wieder zog es ihn zurück an die Orte seiner Kindheit, trotz aller traumatischen Erinnerungen, bis zuletzt hatte er eine kleine Hütte auf der Halbinsel Wustrow, wo er arbeitete und im Meer badete und dem Wind nachsah und den Vögeln.
Lucio Fontana hat er seinen größten Freund genannt – und so wie dieser in den Sechzigerjahren durch seine kühnen Schlitze die bunten Leinwände öffnete und die zweidimensionale Malerei in ein unbekanntes Dunkel dahinter erweiterte, so ging Uecker in seinen Nagelwerken den umgekehrten Weg. Mit jedem Hammerschlag wuchsen sie uns entgegen, um uns ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte von der Poesie, die aus der Kälte erwächst, und der Dynamik, die ihre Wurzeln im Schmerz hat. Ja, wir als Betrachterinnen und Betrachter sind es, die Ueckers Werke mit unseren gleitenden Blicken und unseren Untiefen vollenden, er wollte „den Ablauf einer Bewegung sichtbar machen, als Zustand einer Lebendigkeit, an der der Mensch teilnimmt in schöpferischer Wiederholung, in Monotonie, die wie ein Gebet geistig erlebt werden kann“.
In seinen Druckgrafiken legte er sein gleißend weißes Papier über die Nägel, über einen oder über Hunderte, und wieder gelang ihm eine Verwandlung – die Abdrücke der Nägel setzten das Papier in Bewegung, zerstörten es nicht, sondern ließen es wachsen, in unbekannte Sphären von Ästhetik und Materialität.
Nun hat sich Günther Uecker selbst am Abend des 10. Juni 2025 in genau diese höheren Sphären begeben. Wir dürfen ihn uns dort oben im Himmel unbedingt als Lächelnden vorstellen.