Die anhaltende Wirtschaftskrise in Deutschland lässt die Insolvenzzahlen sprunghaft steigen. 22.400 Unternehmenspleiten meldet die Auskunftei Creditreform für 2024, das sind 24,3 Prozent mehr als im Vorjahr und so viele wie seit 2015 nicht mehr. „Der wirtschaftspolitische Stillstand und die rückläufige Innovationskraft haben den Wirtschaftsstandort Deutschland geschwächt“, analysiert Patrik-Ludwig Hantzsch, der Leiter Wirtschaftsforschung bei Creditreform.
Gepaart mit der schwächelnden Binnenkonjunktur und dem lahmenden Welthandel schlage diese Entwicklung nun in Form von Insolvenzen bei den Unternehmen durch. Und das kräftig. Hantzsch jedenfalls spricht von einer „regelrechten Insolvenzwelle“.
Zumal die Zahlen auch im Vorjahr schon um 22,9 Prozent gestiegen sind – und aus seiner Sicht für 2025 keine Besserung in Sicht ist angesichts der schwachen Konjunkturaussichten und weiterhin schlechten Standortbedingungen hierzulande mit Blick zum Beispiel auf die hohen Energie- und Arbeitskosten oder dem großen Bürokratieaufwand. „Damit könnten bald wieder Insolvenzzahlen nahe an die Höchstwerte der Jahre 2009 und 2010 in Sichtweite kommen, als über 32.000 Unternehmen in die Insolvenz gingen“, fürchtet der Experte.
Der Schaden für Gläubiger und die Volkswirtschaft insgesamt ist aber auch jetzt schon groß. Zwar betrifft die Mehrheit der Insolvenzen Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern. Sie machen alleine gut 81 Prozent der Fälle aus. 2024 gab es aber auch einen deutlich überdurchschnittlichen Anstieg bei Großinsolvenzen, konkret um 44,4 Prozent.
Beispiele sind unter anderem die Warenhauskette Galeria Karstadt Kaufhof, der Reisedienstleister FTI Touristik, der Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Ostwestfalen-Lippe oder die Einzelhandelsketten Depot, Esprit und Sinn. „Die Folgen sind erheblich“, sagt Creditreform-Geschäftsführer Bernd Bütow und verweist auf „hohe Forderungsausfälle sowie Arbeitsplatzverluste“.
Tatsächlich gibt es bei beiden Kennzahlen signifikante Steigerungen. So beläuft sich die Höhe der Gläubigerschäden laut Creditreform-Analyse auf rund 56 Milliarden Euro. Im Vorjahr lag dieser Wert noch bei 31,2 Milliarden Euro. Das Plus liegt damit bei fast 80 Prozent. Und Untersuchungen zeigen, dass Gläubiger in den meisten Fällen weitgehend leer ausgehen und in über 90 Prozent der Fälle auf den Großteil ihrer Forderungen verzichten müssen. Die Zahl der bedrohten oder weggefallenen Arbeitsplätze wiederum hat sich um 56 Prozent erhöht auf nun 320.000 Stellen. Ein solches Niveau gab es zuletzt im Corona-Jahr 2020.
Betroffen vom Insolvenztrend ist branchenübergreifend die gesamte deutsche Wirtschaft. Die größten Zuwächse in den Fallzahlen gibt es allerdings im Dienstleistungssektor, der mit fast 59 Prozent ohnehin den größten Teil aller Insolvenzen ausmacht. Die zweithöchste Steigerungsrate entfällt auf das verarbeitende Gewerbe. Diesen Industriebereich hat sich Creditreform dabei etwas genauer angeschaut – und alarmierendes festgestellt.
„Insolvenzwelle legt auch die Schwächen der deutschen Wirtschaft offen“
Zwar sind die Eigenkapitalquoten der Unternehmen aus dem verarbeitenden Gewerbe höher und die Verschuldung geringer als in vielen anderen Branchen, analysiert Creditreform im Insolvenzreport für 2024. „Andererseits zeigen Finanzkennzahlen aus der jüngeren Vergangenheit eine Branche mit teils bedrohlichen wirtschaftlichen Entwicklungen, wie einem hohen Anteil an Unternehmen, die Verluste erwirtschaftet haben oder niedrige Gewinnmargen aufweisen.“
Angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen in den vergangenen beiden Jahren mit Rezession, Kostendruck und Zinserhöhungen würden sich daher die Hiobsbotschaften häufen, seien es Werksschließungen, Stellenkürzungen oder eben Insolvenzen.
Und tatsächlich: Um mehr als 80 Prozent hat sich die Zahl der Insolvenzen im verarbeitenden Gewerbe seit 2021 erhöht, rechnet Creditreform vor. Zum Vergleich: Für die Gesamtwirtschaft liegt dieser Wert bei 59 Prozent. „Die aktuelle Insolvenzwelle legt auch die Schwächen der deutschen Wirtschaft offen“, sagt Wirtschaftsforscher Hantzsch.
Er sieht neben der akuten Konjunkturschwäche vor allem strukturelle Probleme am Wirtschaftsstandort Deutschland und nennt unter anderem die im internationalen Vergleich hohen Kosten für Energie und Arbeitskräfte, aber auch eine von der Politik verursachte Unsicherheit. „Die noch amtierende Bundesregierung steht in der Industriepolitik unter wachsendem Druck.“
Zumal mit der Automobilindustrie eine deutsche Kernbranche besonders stark betroffen ist. Jede sechste Großinsolvenz entfällt in diesem Jahr auf einen Automobilzulieferer, rechnet der Kreditversicherer Atradius vor. Und die Lage bleibe angespannt. „Die Automobilindustrie führt die Liste der insolvenzgefährdeten Branchen an“, sagt Dietmar Gerke, der Leiter der Abteilung Spezial-Risikomanagement bei Atradius.
Zumal das langjährige Export-Geschäftsmodell der Branche unter Druck steht. „Europa erlässt Zölle, die USA sprechen von Abwehrzöllen gegen China, China subventioniert stark im eigenen Land – alles Anzeichen dafür, dass die Globalisierung auf dem Automobilmarkt zurückgeht“, sagt Gerke. Die Branche müsse sich daher transformieren und endlich mittel- bis langfristig denken, um sich dem Markt anzupassen.
Dass auch dieser Wandel häufig zu Insolvenzen führt, ficht Gerke nicht an. Vor allem kleinere Zulieferer seien betroffen. Vergleichsweise viele davon würden aktuell aber trotz Insolvenz weitergeführt. Der Grund: Automobilhersteller unterstützen selektiert Zulieferer, die für die Produktion unbedingt gebraucht werden.
Die Bedarfe ändern sich aber zunehmend. „Die Zukunftsaussichten sind daher eher schlecht“, erklärt Experte Gerke. Zumal es in der Wirtschaft an Liquidität fehle, um Übernahmen solcher Firmen finanzieren zu können. Abgesehen davon seien Investitionen in die Restrukturierung von insolventen Automobilzulieferern in der aktuellen Situation eher unattraktiv.
Neben der Autoindustrie ist beim Insolvenzgeschehen zuletzt noch eine zweite Branche in den Fokus gerückt: der Einzelhandel. Immerhin häufen sich seit Monaten die Fälle, vielfach sind bekannte Unternehmen und Marken betroffen von Galeria und Weltbild, über Esprit, Scotch&Soda und Sinn, bis hin zu Depot, Kodi, Leysieffer und The Body Shop.
„Strukturelle Herausforderungen treffen auf die wohl schlechteste wirtschaftliche Lage seit der Wirtschafts- und Finanzkrise. Und das gepaart mit einer anhaltend schlechten Konsumstimmung“, sagt Dorothée Fritsch, Handelsexpertin bei der auf Restrukturierung spezialisierten Unternehmensberatung FTI-Andersch.
„An einer Marktbereinigung wird kein Weg vorbeiführen.“ Zumal sie einen Domino-Effekt fürchtet: „Kunden und Lieferanten brechen weg, Rabattschlachten nehmen zu, Finanzierer werden immer skeptischer und die Attraktivität von Innenstädten sinkt weiter.“
Hinter den Kulissen wird bereits gehandelt, zeigt eine aktuelle Befragung der Marktforscher von Verian im Auftrag von FTI-Andersch. Danach will noch bis Jahresende jeder dritte Non-Food-Händler eine Restrukturierung umgesetzt oder begonnen haben. Im Fokus stehen dabei eine Bereinigung des Portfolios, die Rückstellung von Investitionen und der Abbau von Arbeitsplätzen. In vielen Fällen wird zudem eine strategische Neuausrichtung in Betracht gezogen.
Carsten Dierig ist Wirtschaftsredakteur in Düsseldorf. Er berichtet über Handel und Konsumgüter, Maschinenbau und die Stahlindustrie sowie über Recycling und Mittelstandsunternehmen.