Die Geldpolitik der EZB beruht in Teilen auf Fiktion – mit gravierenden Folgen

Der griechische Arzt Galenos von Pergamon, der im zweiten Jahrhundert nach Christus lebte, nahm an, dass jede Krankheit durch eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen den Körpersäften entstehe. Seine Lehre war bis ins 19. Jahrhundert in der Medizin wirkmächtig. Erst mit dem Aufstieg der „Autopsia“ seit Beginn der Neuzeit – dem „Selbersehen“ durch Obduktion – wurde die Medizin zu einer faktenbasierten Wissenschaft.

Heute ähnelt die moderne Ökonomik, die Wirtschaftswissenschaft, in wichtigen Bereichen der galenischen Medizin. Nirgends hat dies gravierendere Folgen als in der Geldpolitik der Zentralbanken. Zur Standortbestimmung ihrer Zinspolitik, die in der jüngeren Vergangenheit durch direkte Geldinfusionen in die Wirtschaft erweitert wurde, konstruieren die Geldpolitiker eine Modellwirtschaft, die „im Gleichgewicht“ wächst.

Dort gibt es einen „neutralen“ Zins – R-Stern genannt –, bei dem das Wirtschaftswachstum mit der von der Zentralbank angepeilten Rate der Geldentwertung einhergeht, die der Öffentlichkeit als „Preisstabilität“ präsentiert wird. Wird das Gleichgewicht der wirtschaftlichen Körpersäfte verschoben, treten die galenischen Geldpolitiker auf den Plan und wollen es durch ihre Zinspolitik wieder geraderücken.

Doch wie die galenischen Ärzte haben sie nur eine vage Vorstellung davon, wie der Wirtschaftskörper wirklich funktioniert. Sowohl die Vorstellung einer im Gleichgewicht wachsenden Wirtschaft als auch die eines sich dort einstellenden „neutralen“ Zinses sind eine Fiktion ohne belastbare empirische Grundlage.

Wie mein früherer Kollege Michael Biggs und ich in einer kürzlich (auf der Website des Flossbach-von-Storch-Researchinstituts) veröffentlichten Analyse herausgearbeitet haben, hat der in der Gleichgewichtsvorstellung der Geldpolitiker zentrale „neutrale“ Zins ein fatales Problem: Da er nicht empirisch beobachtet werden kann, muss er aus den Wirtschaftsmodellen der Geldpolitiker abgeleitet werden.

Diese Modelle sind jedoch so weltfremd, dass der von den Zentralbanken gesteuerte reale Zins seit über drei Jahrzehnten immer tiefer unter die reale Rendite des Kapitals gefallen ist, die er eigentlich widerspiegeln sollte.

Die Inflation könnte erneut aufflammen

Die Folgen davon waren bis zur Zeit der Coronakrise steigende Vermögenspreisinflation und danach – aufgrund der einem umgekehrten Aderlass ähnlichen Geldinjektionen in den Wirtschaftskörper – hohe Konsumentenpreisinflation.

Statt der galenischen Ökonomik aufgrund der schlechten Erfahrungen eine Absage zu erteilen, praktizieren die Zentralbanken sie munter weiter. Obwohl die Inflation noch nicht überwunden ist und viele Gründe dafür sprechen, dass sie erneut aufflammen könnte, schicken sich sowohl die US Federal Reserve als auch die Europäische Zentralbank (EZB) an, ihre Leitzinsen weiter zu senken.

Sie begründen dies damit, dass dadurch die Geldpolitik nur weniger restriktiv würde, weil auch nach den Zinssenkungen der Leitzins über dem „neutralen“ Zins liegen würde.

Doch dieser Zins ist wie die Vorstellung eines inflationsfreien Gleichgewichtswachstums eine Fiktion. Blendet man diese Fiktion aus, bleibt allein das Faktum, dass die Zentralbanken mit ihren Zinssenkungen die Kreditnachfrage stimulieren.

Dies mag in den USA dank des robusten Wachstums der Arbeitsproduktivität für die Beschleunigung der Konsumentenpreisinflation noch glimpflich ausgehen. In der Eurozone, wo Produktivität und Wirtschaft stagnieren, dürfte die Geldpolitik der EZB die „Stagflation“, die Inflation ohne Wirtschaftswachstum, befeuern.

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute