Die Enttäuschten, die Loyalen und die Systemsprenger

Kurz vor der Präsidentschaftswahl liegt eine eigentümliche Ruhe über Warschau. Eine Woche vor der Wahl zogen noch Hunderttausende durch die Straßen: zwei Großdemonstrationen der Kandidaten, zwei unvereinbare Visionen für das Land: Offenheit gegen Isolation. Europa oder Abschottung. Rechtsstaat oder Systemkrise. Ein Showdown zwischen zwei Lagern – laut, entschlossen, unversöhnlich.

Am Tag danach wirkt alles wie weggespült. Vor einer Metrostation legen Verkäufer Erdbeeren aus. Anzugträger sausen auf Fahrrädern durch den Verkehr. Grundschüler öffnen vor dem Präsidentenpalast ihre Brotdosen. Kein Plakatkrieg, keine Lautsprecherwagen, keine Kundgebungen.

Doch unter der Oberfläche brodelt es. Denn bei der Stichwahl am Sonntag stimmen die Polinnen und Polen nicht nur über einen Präsidenten ab. Sondern auch über das Überleben ihrer Demokratie.

Zur Wahl stehen zwei Männer: der eine will Reformen, der andere Blockade.

Da ist zum einen Karol Nawrocki, 42, Amateurboxer, einst Türsteher, Historiker – Kandidat der rechtsnationalen PiS. Eine Partei, die acht Jahre Polens Staat umbaute – Gerichte mit eigenen Richtern besetzte, den Rundfunk mit Propagandisten besetzte. Nawrocki bringt keine politische Erfahrung mit, dafür aber Skandale. Er soll von einem alten Mann unter dubiosen Umständen die Wohnung ergattert haben. Doch das schadete Nawrocki nicht. Mit 29 Prozent zog er als Zweitplatzierter in die Stichwahl. Würde er zum Präsidenten gewählt, würde er weitermachen wie der bisherige: mit Veto.

Denn in Polen reicht eine Parlamentsmehrheit nicht mehr aus, um zu regieren. Der Präsident kann jedes Gesetz stoppen – und das tat er zuletzt zuverlässig. Andrzej Duda, PiS-nah, verhinderte nach dem Wahlsieg der proeuropäischen Koalition unter Donald Tusk im Jahr 2023 fast jede liberale Reform: Frauenrechte, unabhängige Justiz, Antikorruptionsgesetze – nichts davon trat in Kraft.

Rafał Trzaskowski will das ändern. Der liberale Bürgermeister Warschaus, 53, mit jugendlichem Gesicht, ist Oxford-Absolvent, polyglott und überzeugter Europäer. Er tritt für die regierende Bürgerkoalition an. Doch sein Vorsprung in der ersten Wahlrunde fiel knapper aus als erwartet: Mit 31 Prozent der Stimmen wirkte der Sieg eher wie eine Niederlage. Und er zeigte: Das rechte Lager ist nicht geschlagen – es ist kampfbereit. 

Jetzt ist alles offen. In den Umfragen liegen beide Kandidaten Kopf an Kopf.

Wer die Präsidentschaftswahl für sich entscheiden will, muss die Enttäuschten, die Radikalen, die Unentschiedenen für sich gewinnen: Frauen, die für ihr Recht kämpfen. Junge Männer, die sich nach einem politisch rechten Polen sehnen. Dorfbewohner, die den Wandel fürchten. Ihre Stimmen entscheiden: Bleibt Polen demokratisch? Oder werden die Rechten das Land zurückerobern?

Enttäuschte Polinnen

Warschau am Montag vor der Wahl. Beim Zentrum für Schwangerschaftsabbrüche sind die Gegendemonstranten ferngeblieben. Keine Babyschreie aus Lautsprechern, keine Stinkbomben, keine Banner mit Fotos blutverschmierter Föten. Anders als so oft in den vergangenen Wochen haben heute keine Protestierenden den Eingang blockiert.

Drinnen, im hellen Büro, nimmt Justyna Wydrzynska gerade einen Anruf entgegen. Die 51-Jährige setzt sich auf ein rotes Sofa, das wie ein Kussmund geformt ist. „Schwangerschaftsabbrüche sind in Polen nicht grundsätzlich verboten“, sagt Wydrzynska ruhig in den Hörer. „Selbst durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche sind legal.“ Und dann: „Rufen Sie einfach an, wenn Sie die Pillen nehmen.“ Sie legt auf.

Wydrzynska gehört zur Organisation Aborcyjny Dream Team, einem Netzwerk, das Frauen bei selbstbestimmten Abbrüchen unterstützt. Wegen der lauten Proteste, sagt sie, fürchteten sich viele Frauen, selbst ins Zentrum zu kommen. Sie riefen lieber an.

Um das Zentrum sicher für Frauen zu machen, baten Wydrzynska und ihre Mitstreiterinnen den Bürgermeister Warschaus zur Hilfe: Rafał Trzaskowski. Den liberalen Präsidentschaftskandidaten. Doch sein Büro habe erklärt, man könne gegen die Proteste nichts tun. „Statt uns Frauen zu schützen, ließ Trzaskowski uns allein“, sagt Wydrzynska. „Warum sollten wir so einen Kandidaten zum Präsidenten wählen?“

„Wir haben euch vertraut, und ihr habt uns verraten“

Wydrzynska ist in Polen eine bekannte Figur im Kampf für die Abtreibungsrechte. Die von progressiven Frauen angeführte Bewegung hat die Kraft, politische Verhältnisse zu verändern.

Vor fast zwanzig Jahren, mit 31, ist sie zum vierten Mal schwanger. Ungewollt. Von einem gewalttätigen Mann, vor dem sich ihre Kinder versteckten. Schon damals waren ärztliche Abtreibungen in Polen nahezu unmöglich. Wydrzynska bestellte Abtreibungspillen aus dem Ausland, nahm sie im Bad. „Ich hatte Angst, meine Kinder könnten mich verbluten sehen“, sagt sie. Doch alles ging gut. Sie verließ ihren Mann. Ihr kam die Erkenntnis: „Ich war frei – und wollte anderen Frauen helfen.“

Immer wieder stellte ihr eigenes Land Wydrzynska auf die Probe. Sie erinnert sich, wie sie weinte, als sie 2020 von einem Gerichtsurteil erfuhr. Das von rechten Richtern unterwanderte Verfassungsgericht verbot, selbst schwer missgebildete Föten abzutreiben. „Ich dachte an die Frauen, die man zwingen würde, Kinder auszutragen, die kurz nach der Geburt sterben würden.“ Und dann habe sie gedacht: „Wenn wir das jetzt durchgehen lassen, werden sie uns auch alle anderen Rechte nehmen.“

Hunderttausende protestierten gegen das Urteil, es waren die größten Proteste seit Polens Unabhängigkeit. Auch in Wydrzynskas kleiner Heimatstadt seien die Straßen noch nie so voll gewesen – mit jungen Menschen. Drei Jahre später, 2023, stürzten eben diese Polinnen die rechte PiS-Regierung. „Wir dachten, jetzt bekommen wir endlich unsere Rechte zurück“, sagt Wydrzynska. Es kam anders.

Zwar versprach die neue Regierung, Schwangerschaftsabbrüche zügig zu legalisieren. Doch als es im Parlament zur Abstimmung kam, blockierte eine konservative Koalitionspartei – das Gesetz scheiterte. „Viele Frauen sagten sich: Wir haben euch vertraut, und ihr habt uns verraten.“ Für jene Regierung trat dann Rafał Trzaskowski als Kandidat an. Wydrzynska habe nicht gewusst, ob sie ihm vertrauen könne.

Trzaskowskis Rechnung ging nicht auf

Auch ohne Reformen machten die Frauenrechtlerinnen weiter. Am Internationalen Frauentag öffneten sie ihr Abtreibungszentrum. Direkt gegenüber vom polnischen Parlament. Gleich tags darauf tauchten die Abtreibungsgegner auf – und Trzaskowski kümmerte sich nicht um sie.

Wydrzynska sah, wie Trzaskowski im Wahlkampf versuchte, das Image eines Progressiven abzustreifen. Statt Regenbogenfahnen schwenkte er polnische Nationalflaggen, machte harte Ansagen gegen Migration und LGBTQ-Rechte. Die Rechnung ging nicht auf: Die Rechten blieben stark, viele Liberale enttäuscht. Erst nachdem Trzaskowski im ersten Wahlgang weniger Stimmen bekam, als Umfragen vorhergesagt hatten, sprach er mehr über Frauenrechte und Schwangerschaftsabbrüche. Wydrzynska sagt: „Das glaube ich ihm nicht mehr.“

Wydrzynska ist in einer Zwickmühle. 2022 lief bereits ein Strafverfahren gegen sie, Hunderttausende unterschrieben damals Petitionen. „Wenn Nawrocki gewinnt, übernimmt die PiS weiter die Gerichte. Dann muss ich Polen verlassen, um nicht in Haft zu kommen.“ Wydrzynska bleibt keine Alternative zu Trzaskowski. Eine ihrer Mitstreiterinnen sagt: „Wir werden für Trzaskowski stimmen – und danach brauchen wir einen Eimer, um uns zu übergeben.“

Vielleicht ist das Trzaskowskis Schwachstelle: Zu wenige wählen ihn aus Überzeugung – zu viele nur, um Schlimmeres zu verhindern. Am Ende stimmen auch andere ab – mit ihren ganz eigenen Zielen.

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