Eine Frau namens Silvia,
Lehrerin von Beruf, darin zuverlässig und respektiert seit vielen Jahren, verschwindet
im Wald: „Sie war unabsichtlich hierhergekommen,
vorwärts gestoßen wie eine Gefangene mit verbundenen Augen. Krämpfe drehten ihr
den Magen um, der Rand ihrer Schuhe hatte die Haut an ihren Fersen aufgeschürft
(…).“ Umzukehren ist für Silvia nicht möglich, denn „die undeutliche Erinnerung an
das Haus und die Menschen, die sie kannte, erschreckte sie. Den Wald aber
fürchtete sie nicht (…).“
So rätselhaft beginnt das
Romandebüt der italienischen Autorin Maddalena Vaglio Tanet, die
zuvor bereits als Lyrikerin und Verfasserin von Kinderbüchern in Erscheinung
getreten ist. Die italienische Kritik feierte den Roman, der auch für den bedeutenden
Literaturpreis Premio Strega 2023 nominiert war und nun in einer deutschen
Übersetzung von Annette Kopetzki vorliegt.
Schnell wird der Grund für
das Verhalten Silvias offenbar: In der Zeitung las sie vom Suizid ihrer elfjährigen
Schülerin Giovanna, der sie sich besonders verbunden fühlte.
Tanet geht der Verknüpfung
dieser beiden Ereignisse nach, dem Tod der Schülerin und dem Verschwinden ihrer
Lehrerin, einer doppelten Erschütterung, die die Menschen im piemontesischen
Ort Biella aufrührt. Die Autorin siedelt die Geschichte im Jahr 1970 an, sie
selbst wurde 1985 in Biella geboren und wuchs dort auf. Ihre Vertrautheit mit
der kleinen Stadt und deren Umgebung mag ein Grund dafür sein, dass die
Schilderungen der örtlichen Begebenheiten und der Beschaffenheit des Waldes
gänzlich unangestrengt wirken. Im Wald also versteckt sich die 42-jährige Silvia,
überwältigt von Schuld und Scham, denn sie glaubt, durch ein Telefonat mit Giovannas
Mutter den furchtbaren Entschluss des Mädchens ausgelöst zu haben.
Tanet hat sich für eine
allwissende Erzählstimme entschieden, die es ihr ermöglicht, im Laufe des
Romans viele verschiedene Perspektiven einzunehmen und der jeweiligen Figur
tief ins Innere zu schauen.
Zunächst aber bleibt sie im
Epizentrum der Erschütterung, bei der Lehrerin und ihrer ehemaligen Schülerin.
In einer verfallenen Hütte halluziniert Silvia Giovannas Geist, und in
Rückblenden gewährt Tanet einen einfühlsamen Blick in die Empfindungen einer Elfjährigen,
die mit ihrem sich früh entwickelnden Körper alleingelassen, gar dafür beschämt
wird, und den Schlägen des Vaters ausgesetzt ist.
Die Rückblenden wechseln sich
mit Szenen im Wald ab, in denen lange verdrängte Erinnerungen Silvia
heimsuchen. Auch sie hat früh Verlassenheit erfahren, die ihrerseits erlittene
Gewalt als Waise in einem von Nonnen geführten Internat ist wieder präsent.
Die von der Autorin
beschriebene Gewalt gegen Kinder ist hier alltäglich, von Silvias Kindheit in
den Dreißigerjahren wirkt sie fort bis in die Erzählgegenwart der
Siebzigerjahre. Und die Perspektive der Kinder spielt eine bedeutsame Rolle im
Buch.